Wie kamen Finnland und Schweden in die Nato?
Der Beitritt ist ein grosses Geschenk an Militarismus und künftige Kriege
von Jan Oberg,* Schweden
(20. Juni 2022) (Red.) Jan Oberg beschreibt als international anerkannter Friedensforscher die politisch-historischen Hintergründe des Nato-Beitritts von Schweden und Finnland. Wie kam es dazu, dass beide Länder ihre erfolgreiche Neutralität bzw. Blockfreiheit in nur wenigen Wochen aufgegeben haben?
Auch für die Schweiz ist diese Analyse relevant, wenn es um die Kräfte geht, die einen Nato- und EU-Beitritt des Landes erzwingen wollen und damit den Kleinstaat Schweiz zum Spielball der Grossmächte machen würden.
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Der Westen ist intellektuell nicht in der Lage, inmitten seiner grenzenlos selbstgerechten, militaristischen Stimmung, Folgendes zu erkennen:
Die Expansionspolitik der Nato hat den Konflikt verursacht – und ist für ihn verantwortlich. Russland hat den Krieg ausgelöst – und ist dafür verantwortlich. Es gibt keine Gewalt, die nicht in zugrundeliegenden Konflikten verwurzelt ist. Konflikt- und friedenskompetente Menschen sprechen daher über beides.
Konflikte lösen statt «bestrafen»
Und wenn sie Frieden wollen, dann bekämpfen sie nicht die Symptome – den Krieg – sondern die eigentliche Ursache, den Konflikt, und fordern die Konfliktparteien auf, zu sagen, was sie fürchten und was sie wollen, um dann Schritt für Schritt zu einer nachhaltigen Lösung zu gelangen.
Aber weder die Mainstream-Medien noch die Politiker haben die Zivilcourage, den Konflikt anzusprechen. Es geht nur um den Krieg und nur um Russland/Putin, der bestraft werden muss, egal welchen Preis künftige Generationen dafür zahlen müssen. Wenn wir überleben.
Es ist eine Banalität, darauf hinzuweisen, dass zu einem Konflikt mindestens zwei gehören. Das ist jedoch das intellektuelle und moralische Niveau, auf dem sich Entscheidungsträger, Medien und ein Grossteil der Wissenschaft in diesen dunklen Zeiten bewegen.
Dieser Ansatz hat keine Zukunft und kann niemals Frieden bringen. Punkt.
Entscheidungen in hysterischer Panik
Entscheidungen, die mit diesem irrationalen Ansatz und Emotionalismus getroffen werden, machen die Dinge nur noch schlimmer. Wie etwa der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato, der auf der hysterischen Panik des Augenblicks beruht: Es gibt einfach kein glaubwürdiges, realistisches Szenario, das zu einem isolierten, aus heiterem Himmel erfolgenden russischen Angriff auf eines der beiden Länder führen würde, wenn sie bündnisfrei bleiben, wie sie es seit Jahrzehnten sind.
Dass einige weniger sachkundige Leute – oder Leute, die für eine Nato-Mitgliedschaft eintreten – sogar von einem isolierten, aus heiterem Himmel erfolgenden Angriff auf die schwedische Insel Gotland gesprochen haben, ist Monty-Python-Politik.
Warum werden Schweden und Finnland beitreten?
Warum also werden Finnland und Schweden jetzt eine verhängnisvolle, spannungssteigernde Entscheidung für einen Nato-Beitritt treffen? Hier sind einige der möglichen Gründe:
- Beide Länder sind von der Nato und insbesondere von den USA stark unter Druck gesetzt worden. Schwedens Ministerpräsident Olof Palme wurde ermordet – ein Mann, der für das UN-Ziel der internationalen Abrüstung, der Abschaffung der Atomkraft und des intelligenten Konzepts der gemeinsamen Sicherheit stand. US-Botschafter haben geheime Treffen mit schwedischen Abgeordneten abgehalten, es gibt viele Kanäle, Forderungen und Belohnungen.
- Schwedens grösste Sicherheitsherausforderung war das russische U-Boot U 137 Whisky on the Rocks. Es war russisch, ja, aber die Operation war eine amerikanische PSYOP – Psychologische Operation – durchgeführt von dem «Navigationsexperten» an Bord, der als einziger nie in Schweden befragt wurde und bald darauf verschwand.
Es war eine PSYOP, die darauf abzielte, Schweden zu der Erkenntnis zu bringen, dass die Sowjetunion eine Bedrohung darstellte, dass seine Verteidigung gegen den Osten unzureichend war und dass es selbst Schutz im Westen suchen sollte.
Dies ist durch die jahrzehntelange Forschung des emeritierten Professors Ola Tunander sehr gut dokumentiert, die zuletzt in dem Buch «Navigationsexperten. Hur Sverige lät sig bedras av U 137» [Navigationsexperten. Wie Schweden akzeptierte, sich von U 137 täuschen zu lassen].1
Schritt für Schritt wurde Schweden in die richtige Richtung gelenkt. Bestimmte schwedische Politiker wussten, was vor sich ging, aber die Medien und das Volk nicht.
Langsame Annäherung an die Nato – warum nicht gleich heiraten?
- Beide Länder haben sich von den USA und der Nato umwerben lassen. Sie haben sich in den letzten 20 Jahren auf alle möglichen Arten mit der Nato eingelassen – warum also, wie man so schön sagt, nicht gleich heiraten? Mit anderen Worten: Finnland und Schweden treten jetzt bei, weil sie – nach und nach – eine Fehlentscheidung nach der anderen getroffen, sich in die Ecke «keine andere Wahl als die Nato» gedrängt und jeden Rest ihres historischen, unabhängig denkenden, kreativen aussenpolitischen Denkens aufgegeben haben. Und die Kritik an Kriegsführung und Militarismus eingestellt.
Das war auch deshalb möglich, weil kritische oder alternative, unabhängige intellektuelle Beiträge in den Aussenministerien unterbunden und durch verschiedene Arten der pro-amerikanischen Vermarktung von Politiken ersetzt wurden. Jahrzehntelang hat die Nato-Echokammer das nationale pro-Nato-Gruppendenken bestimmt. Niemand durfte die Frage stellen: Wohin in aller Welt werden wir uns in, sagen wir, 25 Jahren bewegen? - Ausserdem treten Schweden und Finnland jetzt der Nato bei, weil die Eliten, die mit dem militärisch-industriellen, medialen und akademischen Komplex (MIMAC) verbunden sind, in beiden Ländern über sicherheits- und aussenpolitische Fragen entscheiden – und nicht das Volk. Natürlich gab es kaum eine offene öffentliche Diskussion; sie war nicht erwünscht. Die Entscheidungsträger wussten, dass die Atomwaffenbasis der Nato und die Kontaktkriege ihrer Mitglieder, insbesondere im Nahen Osten, von den Bürgern als grundsätzlich böse angesehen wurden.
Kein Referendum, weil die Zeit drängt?
- Die liberalen Medien suggerieren, dass es kein Referendum geben kann, weil die Zeit drängt – vermutlich vor dem russischen Einmarsch in Schweden und Finnland – und man deshalb die wichtigste aussen- und sicherheitspolitische Entscheidung seit 1945 in aller Eile treffen muss, da die Empörung der Bevölkerung über Russland – den geliebten, notwendigen Feind – gross ist.
Die schwedischen Entscheidungsträger wissen natürlich, dass es nie eine Mehrheit von 75% oder so für die Nato geben wird – die es für eine solch grundlegende, schicksalhafte Entscheidung geben müsste. So viel zum Thema Demokratie – aber kein neues Nato-Mitglied hat jemals ein Referendum abgehalten, bei dem die Nato und andere Alternativen frei diskutiert wurden und eine 75%ige Mehrheit dafür ausfiel.
(Laut der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet vom 6. Mai 2022 sind 48% der Meinung, dass Schweden der Nato beitreten sollte, aber in nur einer Woche ist die Zahl derer, die sich nicht sicher sind, von 22 auf 27% gestiegen).
Die Pro-Nato-Meinung in Finnland scheint von 53% im Februar auf 76% im Mai 2022 gestiegen zu sein. Im Jahr 2017 waren es laut einem Bericht des Wall Street Journal2 noch 19%. Die Ukraine hat ihre Rolle gespielt.
Intellektuelle Erosion
- Ein weiterer Grund für den Beitritt ist die intellektuelle Abrüstung: Die Entscheidungsträger haben sich auf eine Alternative festgelegt, vergessen, andere Türen offen zu lassen und Alternativen bewusst unterdrückt. Der Friedensdiskurs – in Medien, Politik und Forschung – ist verschwunden. Frieden ist gleichbedeutend mit Waffen, Abschreckung, die mit jedem US/Nato-Krieg mehr und mehr an blinde Loyalität gekoppelt wird.
So beschloss die damalige Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Göran Persson 2001 kurzerhand, die schwedischen Gesetze zum Verbot von Waffenexporten ausser Kraft zu setzen, um während der Invasion des Irak weiterhin Waffen an die USA exportieren zu können.
Diese mehrjährige intellektuelle Abrüstung ist offenkundig – und tendiert immer dazu, militärische gegenüber zivilen Mitteln sowie der Diplomatie den Vorzug zu geben. Und das natürlich nicht nur in diesen Ländern.
Ein Institut wie das SIPRI – Stockholm International Peace Research Institute – ist intellektuell zu etwas verkommen, das eher Stockholm International Military Security Research, SIMSI, heissen sollte – wie ich schon vor Jahren vorgeschlagen habe.3
Mit anderen Worten: Die politische Kreativität, die notwendig war, um eine unabhängige Politik der Neutralität, der Blockfreiheit und der globalen Abrüstung in Verbindung mit einem starken Glauben an das Völkerrecht zu betreiben, ist schon vor Jahren verschwunden.
Es ist einfacher, der Herde zu folgen – vor allem, wenn, wie es scheint, die sozialdemokratische Partei heute nur noch dem Namen nach existiert. - Ohne all diese – tragischen – Gründe zu erschöpfen, sei als letzter Grund die Rolle der Medien erwähnt. Wie überall haben sich die Medien von links bis rechts auf eine prowestliche, nicht neutrale Politik geeinigt. Die gegenwärtige Pro-Nato-Propaganda, nicht zuletzt in der liberalen Dagens Nyheter, ist allgegenwärtig. Kritische Stimmen werden an den Rand gedrängt, und die öffentlichen Informations-«Erklärer» beschränken sich auf ein paar gymnasiale Grundfakten, gepaart mit FOSI = Fake + Omission + Source Ignorance [Fälschung + Unterlassung + fehlende Quelle]. Schweden ist in der Lage, im Fernsehen Podiumsdiskussionen zu veranstalten, bei denen de facto alle Teilnehmer mehr oder weniger für die Nato sind, so dass ein grosser Teil der öffentlichen Meinung aussen vor bleibt. (Seien Sie versichert, dass eine Analyse wie diese in den Medien der Nato-Länder oder bei den Entscheidungsträgern keine Reaktion hervorrufen wird, obwohl sie an Tausende von ihnen geschickt wurde. JO)
Welche Folgen wird die Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens haben?
Es gibt potentiell so viele – einige wahrscheinlicher als andere –, dass sie nicht alle in einer kurzen pointierten Analyse wie dieser aufgeführt werden können. Lassen Sie mich jedoch einige nennen:
- Die Schweden und Finnen werden unsicherer werden. Und warum? Weil es eine härtere Konfrontation und Polarisierung geben wird, statt weicher Grenzen und vermittelnder Haltungen. In einer ernsten Krise werden sie praktisch von den USA/Nato besetzt sein und wissen, was sie zu tun haben.
- In dem Masse, in dem die beiden Länder irgendwann in der Zukunft gebeten werden, US-Stützpunkte zu beherbergen – wie jetzt Norwegen und Dänemark –, werden sie nicht in der Lage sein, «Nein» zu sagen! Solche Stützpunkte werden in einer Kriegssituation Russlands vorrangige Ziele sein.
- Aus russischer Sicht ist die Nato-Mitgliedschaft natürlich extrem spannungssteigernd und konfrontativ. Russland hat 8% (66 Milliarden US-Dollar) der Militärausgaben der 30 Nato-Mitglieder. Nun wird in der gesamten Nato massiv aufgerüstet; allein Deutschland plant eine Aufstockung auf fast das Doppelte der Ausgaben Russlands. Die Ukraine wird etwa 50 Milliarden US-Dollar erhalten. Nimmt man noch ein aufgerüstetes Schweden und Finnland hinzu, so wird Russland auf 4% der Nato-Ausgaben zurückgehen – und immer noch als gewaltige Bedrohung bezeichnet werden.
- Es wird in Europa praktisch keine vertrauensbildenden und konfliktlösenden Mechanismen mehr geben. Eine Diskussion über ein neues gesamteuropäisches Friedens- und Sicherheitssystem wird nicht mehr möglich sein. Und ob es nun verstanden und respektiert wird oder nicht, Russland wird sich noch mehr eingeschüchtert und isoliert fühlen und – in einer bestimmten Situation – noch verzweifelter werden. So wie es normalerweise die schwächere Partei in einem asymmetrischen Konflikt tut. Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten, und diese beiden Länder in der Nato werden die Gefahr nur noch vergrössern, sie können sie auf keinen Fall verringern.
Schwedische und finnische Soldaten für Nato-Kriege?
- Wenn Finnland und Schweden so sehr von den Vereinigten Staaten und/oder der Nato «beschützt» werden wollen, ist es völlig unnötig, dass diese beiden Länder der Nato beitreten, denn im Falle einer ernsten Krise werden die USA/Nato unter allen Umständen kommen, um die baltischen Republiken zu «beschützen» oder vielmehr ihre Gebiete zu nutzen, um näher an ihnen zu sein. Darum geht es bei den Vereinbarungen über die Unterstützung durch die Gastländer.
Der einzige Grund, dem Abkommen beizutreten, wäre Absatz 5 – aber der Nachteil ist, dass Absatz 5 voraussetzt, dass von Finnland und Schweden erwartet wird, dass sie sich an Kriegen beteiligen, bei denen es nicht um ihre Verteidigung geht, und vielleicht sogar an künftigen völkerrechtswidrigen Kriegen wie denen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen. Werden also finnische und schwedische Jugendliche in künftigen Kriegen der Nato-Länder getötet werden? Sind sie dazu bereit? - Es wird ein Vermögen kosten, ihre militärische Infrastruktur auf eine Vollmitgliedschaft in der Nato umzustellen – und wenn sie erst einmal beigetreten sind, können sie den Preis, der dafür zu zahlen sein wird, nicht mehr bezahlen. Darüber hinaus wird es de facto viel weniger souveräne Entscheidungsmöglichkeiten geben – de jure ist hier fast irrelevant. Und das war schon vor ihrem Beitritt sehr eingeschränkt.
Atomwaffen in Schweden und Finnland?
- Als Nato-Mitglieder können Finnland und Schweden nicht umhin, die Verantwortung für Atomwaffen zu teilen – für die Abschreckung und den möglichen Einsatz durch die Nato. Es liegt auch auf der Hand, dass Nato-Schiffe Atomwaffen in ihre Häfen bringen könnten – aber sie werden natürlich nicht einmal danach fragen – sie wissen, dass die arrogante Antwort der USA lautet: «Wir können so etwas weder bestätigen noch dementieren.»
Dies widerspricht jeder Faser des schwedischen Volkes – und Schwedens Entscheidung, keine Atomwaffen zu entwickeln, die rund 70 Jahre zurückliegt. - Die Tage, an denen Schweden und Finnland – zumindest im Prinzip – auf Alternativen hinarbeiten können, sind gezählt. Das heisst, für den Atomwaffenverbotsvertrag von Atomwaffen und die UN-Ziele der allgemeinen und vollständigen Abrüstung, für alternative politische Konzepte wie gemeinsame Sicherheit, menschliche Sicherheit, eine starke UNO usw. Sie werden nicht als Vermittler auftreten können – wie zum Beispiel Österreich und die Schweiz. Kein Nato-Mitglied kann zu solch hehren Zielen auch nur ein Lippenbekenntnis ablegen. Die Nato ist keine Organisation, die zu Alternativen ermutigt. Stattdessen strebt sie nach einem Monopol sowie nach regionaler und globaler Dominanz.
USA – seit 1776 in 225 von 243 Jahren im Krieg
- Finnland und Schweden bejahen ein militaristisches Denken, ein «Friedens»-Paradigma, das von Waffen, Aufrüstung, Offensivkraft (grosse Reichweite und hohe Zerstörungskraft), Abschreckung und ständiger Bedrohung geprägt ist: Die Nato ist die militaristischste Organisation in der Geschichte der Menschheit. Ihr Anführer, die Vereinigten Staaten von Amerika, waren seit 1776 in 225 von 243 Jahren im Krieg.4 Jeder Gedanke an Gewaltlosigkeit, die Bestimmung der UN-Charta, Frieden mit überwiegend friedlichen Mitteln zu schliessen (Artikel 1 der Charta), wird ad acta gelegt.
- Die politische Aufmerksamkeit und die finanziellen Mittel werden sich auf militärische Angelegenheiten verlagern, anstatt zur Lösung der dringendsten Probleme der Menschheit beizutragen. Aber – wir wissen es jetzt schon – der Vorwand wird Putins Einmarsch in der Ukraine sein. Gibt es irgendeine grosse Veränderung, die nicht damit begründet werden kann?
- Obwohl jeder weiss, dass die Arktis in naher Zukunft eine Region von zentraler Bedeutung für Sicherheit und Frieden sein wird, wurde dieses Thema im Zusammenhang mit der Nato-Mitgliedschaft der beiden Länder kaum diskutiert. Es braucht jedoch nicht viel Fachwissen, um zu erkennen, dass der Zugang der USA/Nato zu Schweden und Finnland ein klarer Vorteil in der künftigen Konfrontation mit Russland und China in dieser Region ist.
- Als Nato-Mitglieder akzeptieren Schweden und Finnland den jahrzehntelangen Hass auf das russische Volk, auf alles Russische, einschliesslich der russisch-europäischen Kultur, nicht nur, sondern verstärken ihn noch. Sie werden der rücksichtslosen, reflexartigen kollektiven (illegalen) Bestrafung Russlands durch den Westen zustimmen, der Auslöschung Russlands in allen Dimensionen.
Fehlendes Bewusstsein darüber was Krieg bedeutet
- Im Gegensatz dazu stand der finnische Präsident Kekkonen einst für eine Politik der aktiven Neutralität, eine Vermittlerrolle und die Initiierung der OSZE. Finnland war stolz darauf, dass seine Bevölkerung weder den Osten noch den Westen als Feind empfand, es herrschte eine Art Äquidistanz. Und das war auf dem Höhepunkt des Ersten Kalten Krieges, als der Warschauer Pakt gegenüber der Nato etwa zehnmal so stark war wie Russland es heute ist. Wie und warum? Ein Grund war, dass die Politik eine intellektuelle Grundlage hatte und die Verantwortlichen ein Bewusstsein dafür hatten, was Krieg bedeutet. Das ist heute nicht mehr so.
- Die Aussicht, über die kein Nato-Befürworter spricht, ist folgende: Aller Wahrscheinlichkeit nach stehen wir erst am Anfang eines extrem kalten Krieges mit der immer grösser werdenden Gefahr eines heissen Krieges. Es ist das erklärte Ziel der USA – und damit der Nato –, Russland in der Ukraine militärisch zu schwächen, damit es sich nie wieder erheben kann, und seine Wirtschaft im eigenen Land durch die härtesten, zeitlich unbegrenzten und bedingungslosen Sanktionen der Geschichte zu untergraben – d.h. Sanktionen, die ein Leben lang oder länger nicht aufgehoben werden.
Eingebunden in den US-Kampf gegen China
- Und schliesslich werden die beiden Länder durch den Beitritt zur Nato gezwungen sein, sich bei der künftigen Änderung der Weltordnung, in der China, der Nahe Osten, Afrika und Lateinamerika sowie grosse nichtwestliche regionale Verbände an Stärke gewinnen werden, auf die Seite des grösseren Westens zu stellen. Die Priorität Nummer eins der USA ist China. Als Nato-Mitglieder werden Schweden und Finnland in Zukunft nicht mehr auf zwei Beinen laufen können, einem westlichen und einem nicht-westlichen, und werden mit dem Westen – dem US-Imperium und der Nato im Besonderen – untergehen und fallen.
Wenn Sie glauben, dass dies ein zu gewagtes und pessimistisches Szenario ist, dann verfolgen Sie offensichtlich die Entwicklungen und Trends ausserhalb des Westens selbst nicht. Bedenken Sie bitte auch, dass die gespaltenen und von Problemen geplagten USA, die EU und die Nato nur aus einem Grund zusammengekommen sind: die negative Politik des Hasses auf Russland und der Vertuschung ihrer glasklaren Mitverantwortung für den Konflikt, der uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt stehen.
Der Westen hat keine positive Vision mehr – seine Handlungen drehen sich um Aufrüstung, Drohungen, Sanktionen, Dämonisierung, das selbstgerechte «Wir-haben-nie-etwas-falsch-gemacht» und die damit einhergehende Projektion der eigenen dunklen Seiten auf andere, insbesondere China.
Wenn kleine Länder alles auf eine Karte setzen, obwohl sie Alternativen haben, und ohne eine Ahnung von den nächsten fünf bis zehn Jahren zu haben, war das schon immer ein Rezept für eine Katastrophe, für einen Krieg.
Sowohl die Nato als auch die EU verhalten sich dieser Tage wie die Passagiere im Restaurant der eleganten, luxuriösen RMS Titanic.
Es gab riesige Probleme, die für das Überleben der Menschheit hätten gelöst werden müssen: Klima, Umwelt, Armut, Ungleichheit, Militarismus, Atomwaffen, usw. Jetzt sind sie vergessen. Es folgten Wirtschaftskrisen und Verwerfungen, dann kam Covid und forderte einen hohen Tribut an allen möglichen Ressourcen und Energien. Und schliesslich dieser Krieg in Europa mit seinem von der Nato verursachten Konflikt.
Mangel an intellektueller Kraft
Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in einem Moment historischer Hysterie und Panik Entscheidungen zu treffen. Dies ist in der Tat ein Moment, um Ruhe zu bewahren.
Man kann nur bedauern, dass es Schweden und Finnland an der intellektuellen Kraft fehlt, das grössere Bild in Zeit und Raum zu sehen. Die Nato hatte seit 1949 Zeit zu beweisen, dass sie Frieden schaffen kann. Wir wissen jetzt, dass sie es nicht kann. Der Beitritt zur Nato ist daher ein grosses Geschenk an den Militarismus und die künftigen Kriege.
* Jan Oberg, geboren 1951, ist dänischer Staatsbürger und lebt seit 1971 in Lund, Schweden. Er ist ein international anerkannter Friedensforscher, Mediator und Friedenskommentator sowie ein Kunstfotograf. Jan Oberg und seine Frau, Dr. Christina Spännar, sind die Gründer der Transnationalen Stiftung für Frieden mit friedlichen Mitteln (TFF). |
Quelle: https://transnational.live/2022/05/12/it-is-foolish-for-finland-and-sweden-to-join-nato-and-ignore-both-the-real-causes-and-consequences/, 12. Mai 2022
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 https://www.karnevalforlag.se/bocker/navigationsexperten/
4 https://transnational.live/2022/04/15/the-us-has-been-at-war-225-out-of-243-years-since-1776/