77 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Zeit für eine unabhängige europäische Sicherheit?

Dieter Egli. (Bild zvg)

von Dieter Egli,* USA

(30. Mai 2022) 77 Jahre nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland haben die Vereinigten Staaten nach wie vor zehntausende von Truppen in Europa stationiert. Wenn man auf die Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte zurückschaut, wird zunehmend klar, dass diese Hinterlassenschaft des 2. Weltkriegs sowohl für Europa als auch für die USA unerwünschte Folgen hat, und nun auch Fragen aufwirft, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden könnte.

In den letzten Jahrzehnten haben europäische Nato-Mitglieder – oft trotz Protesten der eigenen Bevölkerung – die US-Interventionen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien unterstützt. Das Resultat dieser Kriege war für Europa durchwegs negativ: Instabile Nachbarstaaten, verlorene Leben, zerstörte Wirtschaften, Flüchtlinge mit neuen Herausforderungen fernab von ihrem Zuhause, dazu kamen Ausgaben ohne den erhofften Erfolg, sowie innere Spannungen.

Die Folgen des Krieges für die Bevölkerung in den betroffenen Ländern sind damit noch keineswegs berücksichtigt. Die Situation in der Ukraine ist zwar eine ganz andere als im Irak oder in Afghanistan, in den Konsequenzen gibt es jedoch Gemeinsamkeiten.

Europa folgt in der Ukraine wiederum weitgehend der Führung der USA und erhofft sich dadurch ein besseres Resultat. Ein langer Konflikt und weitere Eskalation sind jedoch zu erwarten. Beides birgt grösste Risiken und Konsequenzen für den Alten Kontinent. Die USA können sich, geschützt durch zwei Ozeane, weit sicherer fühlen.

Vor Ausbruch dieses Krieges, haben die USA die Initiative zur Integration der Ukraine in die Nato angeführt. Viel wurde bereits geschrieben, insbesondere von Andrew Day1 und John Mearsheimer,2 dass die zunehmende Annäherung der Ukraine an die Nato, die trotz anfänglicher Bedenken von Deutschland und Frankreich unterstützt wurde, für Russland ein Motiv war, die Ukraine anzugreifen. Europäer allein hätten eine mögliche Integration der Ukraine in ein Bündnis anders vornehmen können.

Es stellt sich nun die Frage, weshalb Europa nicht eine eigenständige, unabhängige Sicherheitspolitik vorzieht, die den eigenen Interessen entspricht. Die militärische Vormachtstellung der USA in Europa und in der Nato führt zur Notwendigkeit eines eigenständigen Handelns. Sie schafft Abhängigkeiten und verleitet Europa dazu, sich an der Aussenpolitik und den Interessen der USA zu orientieren.

Das militärische Engagement der USA verändert jedes Sicherheitsproblem grundlegend, da es Rivalitäten und Interessen der USA nach Europa bringt. Es stellt regionale Differenzen in den Kontext einer globalen Rivalität. Das Ergebnis ist ein tief gespaltener europäischer Kontinent, zu dem die Ukraine ebenso gehört wie Russland und Belarus.

Mit jeder Waffenlieferung und jedem Sanktionspaket der EU vertieft sich eine solche Teilung und verstärkt gleichzeitig die Abhängigkeit von den USA. Der Versuch, die Ukraine in ein abhängiges Europa zu integrieren, stellt sich als ausserordentlich schmerzhaft heraus.

Die Sicherheitsstruktur, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs vor 77 Jahren geschaffen wurde, scheint sich nun entschieden zum Nachteil aller Beteiligten auszuwirken, inklusive der US-Bürger. Globale militärische Aktivitäten verschlingen Ressourcen, die in den USA in die Infrastruktur, Gleichstellung im Bildungsbereich und ins Gesundheitssystem investiert werden könnten.

Abhängige Verbündete bieten keine wirksame Kontrolle der militärischen Aktivitäten der USA auf der ganzen Welt, was viele, selbst in Amerika, inzwischen bedauern. Die Präsidenten beider grossen Parteien, einschliesslich Präsident Obama und Präsident Trump, wurden mit dem Ziel gewählt, sich auf die USA zu konzentrieren und von internationalen Interventionen Abstand zu nehmen. Während der Trump Administration hatte man sogar erwogen, Truppen aus Deutschland abzuziehen3 und aus der Nato auszutreten.4 Präsident Biden hat diesen Plan letztes Jahr gestoppt.5

Es mag in Zeiten des Konflikts paradox erscheinen, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob ein Abzug der US-Truppen aus Europa die Positionen neu gewichten und die Spannungen abbauen könnte. Das Argument, die Europäer seien entweder nicht fähig oder nicht willens, zusammenzuarbeiten und sich zu verteidigen, ist ein Hindernis, um die Geschichte der Konflikte zwischen den europäischen Nationen zu überwinden.

Die Welt braucht die Stimme eines unabhängigen Europas. Es wäre ein grosser Gewinn für alle, für die Autonomie und die Interessen Europas, für die innenpolitischen Interessen der US-Bürger, und für den Aufbau von Beziehungen in Osteuropa auf einer anderen Grundlage.

Ein Abzug der US-Wehrmacht, speziell aus Deutschland, sollte dies anbahnen. Deutschland hält den Schlüssel für ein neues Gleichgewicht. Im Gegensatz zu den USA hat Russland seine Armee am Ende des kalten Krieges zurückgezogen und damit die Vereinigung von Ost- und West-Deutschland ermöglicht.

Für Amerikaner wäre eine europäische Militärbasis auf eigenem Boden absolut undenkbar. Militärische Unabhängigkeit ist unverzichtbar. Damit Europa auch eine eigene Sicherheitsstruktur entwickeln kann, angepasst an alle Länder des Kontinents, glaube ich, dass eine Trennung vom US-Militär unabdingbar ist. Die Idee besteht schon seit den 1950er-Jahren, ist aber nie weit genug gediehen. Man kann nur hoffen, dass die Ukraine-Krise den dringend benötigten Impuls für ein neues europäisches Sicherheitsarrangement6 auslösen wird, wie es der französische Präsident Macron vorgeschlagen hat, und die Abhängigkeit Europas von den USA verringern wird, anstatt sie zu erhöhen.

Als die Staats- und Regierungschefs Schwedens und Finnlands letzte Woche [19. Mai] im Weissen Haus empfangen wurden, erklärte Präsident Biden, dass «eine starke, vereinte Nato die Grundlage für die Sicherheit Amerikas» sei. Amerika mag sich sicherer fühlen, wenn es Verbündete zwischen sich und seinen globalen Rivalen hat, aber dadurch gehen diese Verbündeten auch neue Risiken ein, die die Abhängigkeit erhöhen und die Beziehungen zu ihren Nachbarn beeinträchtigen. Bei zunehmender Abhängigkeit von den USA riskiert Europa auch in Asien keine unabhängige Stimme mehr zu haben.

Bereits wird von einer globalen Nato gesprochen, einer Erweiterung im Pazifik7 und einer Einbindung asiatischer Staaten, um China einzukreisen. Eine autonome europäische Sicherheit kann ein wirksames Instrument sein, um Eskalation durch ein abhängiges Kollektiv zu verhindern. Wenn die Ukraine als Warnzeichen dient, dann ist jetzt die Gelegenheit, die Hinterlassenschaft des 2. Weltkriegs zu hinterfragen und eine Diskussion über die Vorzüge europäischer Eigenständigkeit zu beginnen.

* Dieter Egli, geboren 1974, lebt in New York, ist Schweizer und US-Bürger, hat ein Doktorat von der Universität Zürich und ist Professor an der Columbia Universität in New York, USA.

1 https://theweek.com/nato/1013153/shut-natos-door-to-ukraine-permanently?amp

2 https://www.economist.com/by-invitation/2022/03/11/john-mearsheimer-on-why-the-west-is-principally-responsible-for-the-ukrainian-crisis

3 https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/usa-donald-trump-beschliesst-truppenabzug-aus-deutschland?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

4 https://www.rnd.de/politik/neues-buch-donald-trump-wollte-nach-wahlsieg-aus-der-nato-austreten-7JF4WQ27AAG3MH6DOIBZH7TRGM.html

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/biden-truppen-trump-1.5196575

6 https://www.defenseone.com/ideas/2022/01/its-macrons-moment-move-europe-beyond-nato/361163/

7 https://www.wsj.com/articles/expand-nato-hawaii-falkland-guam-north-korea-china-ukraine-russia-invasion-nuclear-capable-bomber-missile-11650830803

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