Das Saatgut der Plünderung: Lose-Lose-Situation in der Ukraine

Mähdrescher in der Ukraine. «Während die grossen Agrarunternehmen auf die
Exportmärkte ausgerichtet sind, sind es die kleinen und mittleren Landwirte der
Ukraine, die die Ernährungssicherheit des Landes gewährleisten.» (Bild Keystone)

Wie grosse Private Equity Fonds die Ukraine aufkaufen

von Colin Todhunter*

(13. Juni 2023) «Es ist eine Lose-Lose-Situation für die Ukrainer, sie können nur verlieren. Während sie für die Verteidigung ihres Landes sterben, unterstützen Finanzinstitute heimtückisch die Aneignung von Ackerland durch Oligarchen und westliche Finanzinteressen.»

Das sagt Frédéric Mousseau, Politischer Direktor des Oakland Institute, einer unabhängigen Denkfabrik.

Je nachdem, welchen Quellen man Glauben schenkt, sind zwischen 100 000 und 300 000 ukrainische Soldaten (möglicherweise mehr) während des Konflikts mit Russland gestorben. In dieser Zahl sind die zivilen Opfer natürlich nicht enthalten.

Die gängige Meinung im Westen ist, dass Russland die Krim erobert hat und dann in die Ukraine einmarschiert ist. Russland wird als offener Aggressor dargestellt, der seine Kontrolle über weite Teile Europas wiederherstellen will.

Diese Darstellung ist jedoch falsch und wurde von verschiedenen Kommentatoren widerlegt,1 die ausführlich darlegen, wie die Ukraine als Teil einer von den Neokonservativen in Washington konzipierten geopolitischen Kampagne zur Destabilisierung Russlands benutzt und manipuliert wurde. Die Nato-Osterweiterung, der von den USA unterstützte Putsch im Jahr 2014 – gefolgt von acht Jahren des Beschusses der ethnisch russischen Ostgebiete des Landes durch das Regime in Kiew mit rund 14 000 Toten – führten zur militärischen Intervention Russlands, das den Expansionismus und Militarismus als existenzielle Bedrohung betrachtet.

Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, diese Fragen zu untersuchen. Darüber ist an anderer Stelle bereits viel geschrieben worden. Aber die Nato-Länder haben militärisches Gerät im Wert von Milliarden von Dollar in die Ukraine geschickt, und Hunderttausende junger Ukrainer sind gestorben.

Sie starben in dem Glauben, dass sie ihre Nation – ihr Land – beschützen. Ein Land, das zu den fruchtbarsten der Welt gehört.

Professor Olena Borodina von der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine sagt:

«Heute kämpfen und sterben Tausende junge Bauern und Bäuerinnen vom Lande im Krieg. Sie haben alles verloren. Die Prozesse des freien Landverkaufs und -erwerbs werden zunehmend liberalisiert und beworben. Dies bedroht die Rechte der Ukrainer auf ihr Land, für das sie ihr Leben geben.»

Borodina wird in dem im Februar 2023 erschienenen Bericht des Oakland Institute «War and Theft: The Takeover of Ukraine's Agricultural Land»2 zitiert, der aufzeigt, wie Oligarchen und Finanzinteressen mit Hilfe und Finanzierung durch westliche Finanzinstitute die Kontrolle über das ukrainische Agrarland ausweiten.

Die Hilfe, die der Ukraine in den letzten Jahren gewährt wurde, war an ein drastisches Strukturanpassungsprogramm gebunden, das die Schaffung eines Bodenmarktes durch ein Gesetz vorschreibt, das zu einer stärkeren Konzentration von Land in den Händen mächtiger Interessen führt. Das Programm umfasst auch Sparmassnahmen, Kürzungen der sozialen Sicherheitsnetze und die Privatisierung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft.

Wer kontrolliert die Kornkammer Europas?

Frédéric Mousseau, Mitverfasser des Berichts, sagt:

«Obwohl der Konflikt im Zentrum der Nachrichten und der internationalen Politik steht, wurde der zentralen Frage – wer kontrolliert die landwirtschaftlichen Flächen in dem Land, das als Kornkammer Europas bekannt ist? – wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Antwort ist von entscheidender Bedeutung, um zu verstehen, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht.»

Aus dem Bericht geht hervor, dass Oligarchen, korrupte Einzelpersonen und grosse Agrarunternehmen insgesamt über neun Millionen Hektar Land kontrollieren – das sind mehr als 28 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche der Ukraine (der Rest wird von über acht Millionen ukrainischen Landwirten genutzt).

Bei den grössten Landbesitzern handelt es sich um eine Mischung aus ukrainischen Oligarchen und ausländischen Interessen – hauptsächlich aus Europa und Nordamerika sowie dem Staatsfonds von Saudi-Arabien. Eine Reihe grosser US-amerikanischer Pensionsfonds, Stiftungen und Universitätsfonds sind ebenfalls in ukrainisches Land investiert, und zwar über NCH Capital, einen in den USA ansässigen Private-Equity-Fonds, der der fünftgrösste Landbesitzer im Lande ist.

Präsident Zelensky setzte die Landreform im Jahr 2020 gegen den Willen der grossen Mehrheit der Bevölkerung durch, die befürchtete, dass sie die Korruption verschärfen und die Kontrolle durch mächtige Interessen im Agrarsektor verstärken würde.

Landbesitzer in Steueroasen wie Zypern oder Luxemburg

Das Oakland Institute stellt fest, dass Grossgrundbesitzer massive Finanzmittel von westlichen Finanzinstitutionen erhalten, während die ukrainischen Landwirte, die für die Sicherung der einheimischen Nahrungsmittelversorgung unerlässlich sind, praktisch keine Unterstützung erhalten. Angesichts des bestehenden Bodenmarktes, des hohen wirtschaftlichen Drucks und des Krieges wird diese Ungleichbehandlung zu einer weiteren Landkonsolidierung durch grosse Agrarunternehmen führen.

Bis auf eine Ausnahme sind alle zehn grössten Landbesitzerfirmen im Ausland registriert, hauptsächlich in Steueroasen wie Zypern oder Luxemburg. In dem Bericht werden viele prominente Investoren genannt, darunter die Vanguard Group, Kopernik Global Investors, BNP Asset Management Holding, die zu Goldman Sachs gehörende NN Investment Partners Holdings und Norges Bank Investment Management, die den norwegischen Staatsfonds verwaltet.

Die meisten Agrarunternehmen sind in erheblichem Masse bei westlichen Finanzinstitutionen verschuldet, insbesondere bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Europäischen Investitionsbank und der Internationalen Finanz-Corporation – dem privatwirtschaftlichen Arm der Weltbank.

Ein zerstörerisches industrielles Landwirtschaftsmodell

Zusammen waren diese Institutionen die wichtigsten Kreditgeber für die ukrainische Agrarindustrie, wobei in den letzten Jahren allein an sechs der grössten ukrainischen Landwirtschaftsbetriebe fast 1,7 Milliarden US-Dollar verliehen wurden. Andere wichtige Kreditgeber sind eine Mischung aus hauptsächlich europäischen und nordamerikanischen Finanzinstituten, sowohl öffentlichen als auch privaten.

Der Bericht stellt fest, dass dies den Gläubigern eine finanzielle Beteiligung an der Tätigkeit der Agrarunternehmen verschafft und einen erheblichen Einfluss auf sie ausübt. In der Zwischenzeit mussten die ukrainischen Landwirte mit einer begrenzten Menge an Land und Finanzmitteln auskommen, und viele stehen nun am Rande der Armut.

Die internationalen Finanzinstitutionen subventionieren die Landkonzentration und ein zerstörerisches industrielles Landwirtschaftsmodell, das auf dem intensiven Einsatz synthetischer Betriebsmittel, fossiler Brennstoffe und grossflächigem Monokulturanbau beruht.

Private Equity-Fonds fliessen weltweit in die Landwirtschaft

Vieles von dem, was in der Ukraine geschieht, ist Teil eines umfassenderen Trends: Private Equity-Fonds fliessen weltweit in die Landwirtschaft und werden genutzt, um landwirtschaftliche Betriebe zu pachten oder billig aufzukaufen und sie zu gross angelegten, industriellen Getreide- und Sojakonzernen zusammenzufassen. Diese Fonds nutzen Pensionsfonds, Staatsfonds, Stiftungsfonds und Investitionen von Regierungen, Banken, Versicherungsgesellschaften und vermögenden Privatpersonen (siehe den Bericht «Barbarians at the Barn» von Grain.org aus dem Jahr 2020).3

Durch diese Art der Vermarktung der Agrarwirtschaft wird die Macht auf Menschen übertragen, die nichts mit der Landwirtschaft am Hut haben. Um es mit den Worten von Larry Fink, CEO von BlackRock zu sagen: «Investiere in Agrarwirtschaft und Wasser und geniesse das Strandleben.»4

Bedeutung der kleinen und mittleren Landwirte für die Ernährungssicherheit

Fonds investieren in der Regel 10 bis 15 Jahre lang, was den Anlegern gute Renditen beschert, aber langfristig ökologische und soziale Verwüstungen nach sich ziehen und die lokale und regionale Ernährungssicherheit untergraben kann.

Dem Oakland Institute zufolge sind die Kleinbauern in der Ukraine dagegen widerstandsfähig und verfügen über ein enormes Potenzial für die Ausweitung eines anderen Produktionsmodells, das auf Agrarökologie und der Erzeugung gesunder Lebensmittel basiert. Während die grossen Agrarunternehmen auf die Exportmärkte ausgerichtet sind, sind es die kleinen und mittleren Landwirte der Ukraine, die die Ernährungssicherheit des Landes gewährleisten.

Dies unterstreicht der Staatliche Statistikdienst der Ukraine in seinem Bericht «Main agricultural characteristics of households in rural areas in 2011», aus dem hervorgeht, dass Kleinbauern in der Ukraine 16 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen bewirtschaften, aber 55 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion liefern, darunter 97 Prozent der Kartoffeln, 97 Prozent des Honigs, 88 Prozent des Gemüses, 83 Prozent der Früchte und Beeren und 80 Prozent der Milch.

IWF-Massnahmen fördern den Ausverkauf

Im Juni 2020 genehmigte der Internationale Währungsfonds (IWF) ein 18-monatiges, an Bedingungen geknüpftes 5-Milliarden-Dollar-Kreditprogramm für die Ukraine.5 Im selben Jahr nahm die Weltbank Massnahmen im Zusammenhang mit dem Verkauf öffentlicher landwirtschaftlicher Flächen als Bedingungen für ein entwicklungspolitisches Darlehen (COVID-«Hilfspaket») an die Ukraine in Höhe von 350 Millionen Dollar auf.6 Dazu gehörte die Forderung nach einer «vorherigen Massnahme», um «den Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen und die Verwendung von Grundstücken als Sicherheiten zu ermöglichen».

Hier die Aussagen des Oakland Institute:

«Die Ukraine ist jetzt der drittgrösste Schuldner des Internationalen Währungsfonds und ihre lähmende Schuldenlast wird wahrscheinlich zu zusätzlichem Druck seitens ihrer Gläubiger, Anleihegläubiger und internationalen Finanzinstitutionen führen, wie der Wiederaufbau nach dem Krieg – der schätzungsweise 750 Milliarden US-Dollar kosten wird – erfolgen soll.»

Lähmende Verschuldung, um zu erpressen

Die Finanzinstitutionen nutzen die lähmende Verschuldung der Ukraine, um eine weitere Privatisierung und Liberalisierung voranzutreiben, und drängen das Land in die Enge, um ihm ein Angebot zu machen, das es nicht ablehnen kann.

Seit Beginn des Krieges wurde die ukrainische Flagge vor den Parlamentsgebäuden im Westen gehisst und ikonische Wahrzeichen wurden in ihren Farben beleuchtet. Ein Bild, das benutzt wird, um Gefühle der Solidarität und Unterstützung für diese Nation hervorzurufen und gleichzeitig von den harten Machenschaften der Geopolitik und der modernen wirtschaftlichen Ausbeutung abzulenken, die unbehindert durch nationale Grenzen und ohne Rücksicht auf die Notlage der einfachen Bürger erfolgen.

* Colin Todhunter ist ein bekannter unabhängiger Autor und ehemaliger Sozialpolitiker. Er stammt ursprünglich aus dem Vereinigten Königreich und hat viele Jahre in Indien verbracht. Er ist spezialisiert auf Entwicklung, Ernährung und Landwirtschaft. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre for Research on Globalization (CRG) in Montreal.

Quelle: https://www.globalresearch.ca/sowing-seeds-plunder-lose-lose-situation-ukraine/5818851, 10. Mai 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.youtube.com/watch?v=6xl4L_9GHf4

2 https://www.oaklandinstitute.org/war-theft-takeover-ukraine-agricultural-land

3 https://grain.org/e/6533#.X7z4qBcnmMg.twitter

4 https://www.farmlandgrab.org/post/view/22001-investors-hungry-for-agriculture

5 https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/06/09/pr20239-ukraine-imf-executive-board-approves-18-month-us-5-billion-stand-by-arrangement

6 https://www.brettonwoodsproject.org/2020/07/imf-and-world-bank-help-push-through-contentious-ukraine-land-reform-amid-covid-19-pandemic/

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