«Wir möchten nicht als Opfer erinnert werden»

Yousef Aljamal: «Gaza soll als Ort der Hoffnung in
Erinnerung bleiben» (Bild UC)

Vortrag von Dr. Yousef Aljamal bei der «Gesellschaft Schweiz-Palästina» in Zürich

von Ursula Cross

(16. Februar 2024) Auf Einladung der Gesellschaft «Schweiz–Palästina»1 sprach am 28. Januar 2024 Yousef Aljamal, der im Flüchtlingslager Nuseirat in Gaza aufgewachsen ist, über persönliche menschliche Schicksale, über die zähen Palästinenser, den Stolz der Menschen auf ihre Geschichte und seine Hoffnung in die jungen Menschen auf der ganzen Welt.

«Meine Beispiele sollen dazu dienen, dass man sich das Leben in einem besetzten Gebiet besser vorstellen kann.» Mit diesen Worten leitet Dr. Aljamal seinen Vortrag ein.

Vorstellung von Yousef Aljamal

Im Flüchtlingslager besuchte Aljamal eine Schule des United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA). Seine Familie lebte im Block A eines ehemaligen Gefängnisses aus dem Ersten Weltkrieg. Ein- und Ausgang waren die alten Gefängnistore. Das war sein Zuhause. Dank der Schule konnte er später studieren. Zuerst an der Islamic University in Gaza. Es folgte ein Masterstudium in Malaysia zum Thema «BDS (Boycott, Divestment and Sanctions)» und vor einem Jahr erlangte er einen Studienabschluss in der Türkei zum Thema «Terrorismus- und Befreiungs-Bewegungen im Mittleren Osten». Heute lebt er mit seiner Frau in der Türkei.

Im Gazastreifen hat er viele Familienmitglieder und Freunde. Bis zum 18. Oktober 2023 hatte er bereits neun Familienmitglieder im unsäglichen Krieg verloren, allesamt Teil der Zivilbevölkerung.

Freundschaft mit dem israelischen «Sohn des Generals»

Seit 2013 verbindet ihn eine enge Freundschaft mit dem Israeli Miko Peled, Autor des beeindruckenden Buches «Der Sohn des Generals», dessen Grossvater ein Führer der zionistischen Bewegung und einer der Unterzeichner der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 war.

Sein Vater, Matti Peled war einer der Generäle des Sechstagekriegs. Er trat in den letzten Jahrzehnten seines Lebens energisch für eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern und für einen gerechten Frieden auf der Basis der Gleichberechtigung ein.

Israelis ist es nicht erlaubt, nach Palästina zu reisen. Trotzdem hat Yousef Aljamal eines Tages Miko Peled durch die Tunnels nach Gaza geführt, damit er dort einige Referate halten konnte. Das hatte es noch nie gegeben: ein jüdischer Israeli, der zu Menschen in Gaza sprach.

Bericht von weiteren besonderen Kontakten

Yousef Aljamal wurde früh Mitglied des Kollektivs We Are Not Numbers, zusammen mit dem Dichter Refaat Alareer, der am 6. Dezember 2023 durch einen gezielten israelischen Angriff ums Leben kam, kurz nachdem er das Gedicht «If I must die», («Wenn ich sterben muss») veröffentlicht hatte. Dieses Gedicht hatte der prominente Oppositionelle 2011 geschrieben.

Zusammen haben Aljamal und der Dichter Alareer mehrere «Promotion-Tours» in den USA gemacht um Alareers Bücher, zu denen auch Aljamal beigetragen hatte, vorzustellen. So zum Beispiel «Gaza writes back» (2014) und «Light in Gaza: Writings Born of Fire» (2022). Refaat Alareer war bekannt als «Die Stimme Gaza’s».

Refaat Alareer, palästinensischer
Dichter. (Bild zvg)

If I must die

If I must die,
you must live
to tell my story
to sell my things
to buy a piece of cloth
and some strings,
(make it white with a long tail)
so that a child, somewhere in Gaza
while looking heaven in the eye
awaiting his dad who left in a blaze —
and bid no one farewell
not even to his flesh
not even to himself —
sees the kite, my kite you made, flying up above
and thinks for a moment an angel is there
bringing back love
If I must die
let it bring hope
let it be a tale.

Wenn ich sterben muss

Wenn ich sterben muss,
musst du weiterleben
um meine Geschichte zu erzählen
um meine Sachen zu verkaufen
ein Stück Stoff zu kaufen
und einige Schnüre,
(er soll weiss werden mit einem langen Schwanz)
so dass ein Kind, irgendwo in Gaza
während es dem Himmel ins Auge schaut
in Erwartung auf seinen Vater,
der in einem Feuersturm wegging
ohne sich von jemandem zu verabschieden –
nicht einmal von seinem eigenen Fleisch
nicht einmal von sich selbst –
den Drachen sieht, meinen Drachen, den du gemacht hast, wie er fliegt weit oben
und es für einen Moment denkt, dass dort ein Engel ist
der Liebe zurückbringt
wenn ich sterben muss
lass es Hoffnung bringen
lass es eine Geschichte sein.

Yousef Aljamal hat mehrere Bücher übersetzt. Heute publiziert er regelmässig für verschiedene Medien und beteiligt sich zweimal wöchentlich am Podcast PalCast zusammen mit dem Iren Tony Groves.

Yousef Aljamal’s Familiengeschichte

«Vor 1948 lebten vor allem Bauern in dieser Gegend. Sie bauten Früchte, Gemüse, Getreide an. Mein Grossvater war einer der kleinen Bauern. In diesem schicksalshaften Jahr wurden alle Bewohner des Dorfes gewaltsam vertrieben. Dabei wurde mein Grossvater erschossen und meine Familie lebte danach während 20 Jahren verstreut, ohne jegliche Möglichkeit, sich zu sehen. Erst 1967 fanden sie wieder zusammen. Meine Eltern heirateten 1978. Ein farb-codiertes Identifikationssystem schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Meine Eltern besassen eine grüne West Bank Identitätskarte (ID). Ursprünglich besass meine Mutter eine blaue Jerusalem ID. Für jede Reise musste eine israelische Bewilligung eingeholt werden. Es dauerte 12 Jahre, bis meine Mutter ihre Verwandtschaft in Jerusalem besuchen konnte! Als sie zur Behandlung ihrer Brustkrebserkrankung nach Israel fahren musste, weil es damals in Gaza keine spezialisierten Krankenhäuser für Krebsbehandlungen gab, hatte sie Glück, dass die Bewilligung früh genug erteilt wurde. Viele erhielten keine Bewilligungen. Meine Schwester hätte eine kleine Operation benötigt. Weil sie über ein Jahr keine Reisebewilligung erhielt, war ihre Krankheit so fortgeschritten, dass sie nicht mehr gerettet werden konnte. Sie war 26.

Das türkische Krankenhaus für Krebsbehandlungen in Gaza wurde inzwischen bombardiert.»

Phoenix Statue auf dem Palestine Square in Gaza City. (Bild Israa
Mohammed Jamal)

Zum Überleben: schlau, störrisch und resilient

«Mein Vater verdiente den Lebensunterhalt als einfacher Arbeiter für die Israeli.

Einmal haben ihn israelische Soldaten aufgefordert, dass er mitten im Dorf tanzen solle, was einer grossen Demütigung gleichkommt. Da forderte er die Soldaten zum Klatschen auf, damit etwas Stimmung aufkommt. Als diese ihre Waffen weglegten um zu klatschten, rannte mein Vater schnell weg und versteckte sich schlussendlich auf einem Orangenbaum, wo man ihn nicht entdeckte.

Mein Cousin promovierte ebenfalls in Malaysia. Im Oktober ist er mit seiner Frau nach Gaza gereist. Ihre Familie lebte da und sie wollte für die Geburt ihrer Zwillinge dort sein. Durch die Bombardierungen der Krankenhäuser musste sie die Kinder mit einem Kaiserschnitt ohne Anästhesie auf die Welt bringen. Dann wurde ihr Wohnhaus bombardiert: die sechs Tage alten Zwillinge, mein Cousin, seine Frau und ein Grossteil seiner Familie haben nicht überlebt.

Viele junge Palästinenser gingen nach Griechenland. Gaza hat mit 98% eine der höchsten Alphabetisierungsraten in den arabischen Ländern. – Die mündliche Überlieferung berichtet, dass die Menschen in Gaza und Hebron sehr «störrisch» sind.

In Gaza City steht eine wenig bekannte Metall Statue eines Phoenix, der bekanntlich immer wieder aus der Asche aufsteigt. Er ist das Sinnbild für die unglaubliche Resilienz der Bewohner angesichts von ethnischen Säuberungen, Repressionen und Zerstörung.»

«Gaza ist die viertälteste Stadt der Welt und hatte früher auch einen Meereshafen.

Alexander der Grosse brauchte drei Anläufe, um Gaza zu erobern. Beim dritten Mal schaffte er es nur dank einer List. Die Geschichte von Samson und Delilah spielt auch in Gaza.

Es habe viele Heiden gegeben. Man habe ihnen gesagt, dass wenn sie an Gott glauben würden, d.h. Christen werden, dann würde es regnen. Viele sind darauf eingegangen. Während des 1. Weltkriegs wurde Gaza von Grossbritannien besetzt und vollständig zerstört.

In Gaza befindet sich auch die drittälteste Kirche der Welt.

Kurz vor dem 7. Oktober 2023 wurden im Herzen von Gaza römische Gräber entdeckt.

Die Palästinenser sind sehr stolz auf ihre Geschichte.»

Yousef Aljamal zeigte eine Karte des Gazastreifens und einige ausgewählte Bilder, fast alles intakte, positive Bilder. «Wir möchten nicht als Opfer erinnert werden. Wir möchten auch nicht, dass man Gaza als traurigen Ort in Erinnerung hält, sondern als Ort der Hoffnung.»

Das erinnert an das Gedicht seines Freundes Refaat Alareer, das er vorgelesen hat.

Das UNRWA

«Das UNRWA ist für die Palästinenser sehr wichtig. Es war schon immer ein Symbol für Palästina. In Gaza arbeiteten 30'000 Menschen für das UNRWA, sei es im medizinischen Bereich oder in Schulen. [Das Mandat besteht seit 1949 und wird alle 3 Jahre verlängert, Red.] Israel war schon immer gegen die UNRWA, weil deren Existenz es an die vielen palästinensischen Flüchtlingslager erinnert. Wenn jetzt aufgrund von Korruptionsvorwürfen die UNRWA ausgeschaltet würde, wäre dies eine Katastrophe. Zuerst muss das Gaza-Problem gelöst werden, dann kann man erst die UNRWA stoppen. 85% sind vertrieben, im Norden hungern die Menschen.»

Stimmung in der Türkei und in Malaysia

Yousef Aljamal: «Viele Menschen werden wachgerüttelt angesichts tausenden von getöteten Menschen im Gaza Streifen. Somit können die Ideale Palästinas, die Idee Palästina nicht ausgelöscht werden.»

Er schildert die Stimmung und Anteilnahme, der er begegnet. Die Türkei anerkennt Palästina und die allgemeine Unterstützung gilt Palästina: man sieht viele Flaggen, Proteste, israelische Produkte werden boykottiert und Rufe nach Sanktionen gegen Israel werden laut. Auch in Malaysia ist es nur eine Minderheit, die Israel unterstützt, die allermeisten sympathisieren mit Palästina. Trotz unterschiedlicher Standpunkte herrscht in Malaysia keine aufgeheizte Stimmung. Manche Leute wechseln ihre Visa Karten zu lokalen Kreditkarten. [Beide Länder unterstützen die Klage von Südafrika beim Internationalen Gerichtshof. Red.]

Diskussion und Ausblick

Was kann man tun? Eine ältere Dame zeigt ihre Solidarität und ihr Mitgefühl durch das Tragen eines Kufiyas, eines palästinensischen Tuchs. Man kann sich beim Schweizer Presserat für die unfassbar einseitige Berichterstattung beschweren. Ein anderer Teilnehmer erinnert daran, sich nicht in Details zu verlieren, z.B. in Diskussionen. Man muss nicht politisch motiviert sein, man muss einfach menschlich sein, sich auf die Ungerechtigkeit und die vielen Todesopfer fokussieren.

Yousef Aljamal schlägt vor:

«Man muss ‹Lärm machen›, wie das Kind bei der Mutter ‹Lärm macht›, wenn es etwas haben will, man muss sprechen, protestieren. Die jungen Menschen sind jetzt besonders wichtig. Mit den sozialen Medien gelangen sie direkter zu Informationen und Videoberichten und teilen diese. Die Geschichten der Menschen müssen weitergetragen werden.»

1 Die Gesellschaft Schweiz-Palästina (GSP) wurde im Jahr 1976 gegründet. Als konfessionell und parteipolitisch unabhängige, gemeinnützige Organisation verfolgt sie die Ziele, die Beziehungen mit dem palästinensischen Volk zu stärken sowie ihren Mitgliedern und der Schweizer Öffentlichkeit die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Palästina zu vermitteln. Mit ihrer «Kampagne Olivenöl aus Palästina» wird seit 2001 ein Beitrag zur Existenzsicherung palästinensischer Kleinbauern geleistet.

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