Souveränität im 21. Jahrhundert

von Nicola Eisenborn, Politikwissenschaftler

(30. Januar 2021) Gedanken zu einem Aspekt der Rede von Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, anlässlich der Pressekonferenz vom 24. Dezember 2020 zu den Ergebnissen der Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien.

Am 24. Dezember 2020 unterzeichneten die Europäische Union und das Vereinigte Königreich endlich einen «Deal». In extremis wurde eine Einigung über die neuen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den beiden Parteien erzielt. Somit wird es auch keine Zollschranken oder Kontingente geben. Nach der Unterzeichnung des Abkommens machte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, die die einflussreichste Autorität in der EU ist, «interessante» Bemerkungen über Souveränität.

«Natürlich hat sich die ganze Debatte immer um Souveränität gedreht. Aber wir sollten uns von Slogans lösen und uns fragen, was Souveränität im 21. Jahrhundert wirklich bedeutet. Für mich bedeutet es, dass man in 27 Ländern ungehindert arbeiten, reisen, studieren und Geschäfte machen kann. Sie fordert uns auf, unsere Kräfte zu bündeln und in einer Welt der Grossmächte mit nur einer Stimme zu sprechen. Und in diesen Krisenzeiten geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, anstatt zu versuchen, allein zurechtzukommen. Die Europäische Union zeigt auf, wie dies in der Praxis funktioniert. Und kein Abkommen der Welt kann die Realität oder den Ernst der heutigen Wirtschaft und der heutigen Welt ändern. Wir sind einer der Giganten.»*

Wer mit der Bedeutung des Begriffs «Souveränität» vertraut ist, wird von den obigen Aussagen überrascht sein. Persönlich finde ich sie aus zwei Gründen problematisch:

Erstens verzerrt und verfälscht Frau von der Leyen einen Begriff, der eigentlich kaum umstritten ist. Über die Definition des Begriffs «Souveränität» besteht international und in akademischen Kreisen ein breiter Konsens. Die Definition der Editions Larousse ist repräsentativ und sehr zutreffend: «Die dem Staat zugestandene oberste Gewalt, die die Ausschliesslichkeit seiner Rechtsprechung auf dem nationalen Territorium (innere Souveränität) und seine absolute Unabhängigkeit im internationalen Bereich impliziert – wo er nur durch seine selbst eingegangenen Verpflichtungen begrenzt ist (äussere Souveränität).» Natürlich ist die Personenfreizügigkeit in den Köpfen vieler Europäer etwas Positives, aber Souveränität hat absolut nichts mit dem Reisen, Studieren oder Arbeiten in 27 verschiedenen Ländern zu tun. Es geht um die Möglichkeit eines Staates, Entscheidungen zu treffen und unabhängig und frei zu handeln, ohne irgendeiner supranationalen Autorität gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein. Im Gegensatz zu dem, was Frau von der Leyen sagt, bedeutet «Souveränität» auch nicht, «mit einer Stimme zu sprechen». Im Gegenteil: Ein souveränes Land muss seine eigene Stimme haben können, auch wenn sie im Widerspruch steht zur Mehrheit der anderen Staaten. Die EU ist übrigens nicht gerade dafür bekannt, abweichende Stimmen zu respektieren (Polen, Ungarn u. a.).

Zweitens scheint die Chefin der EU eine klare Meinung zu vertreten: Kleine souveräne Länder gehören der Vergangenheit an! Wenn man ihre Stellungnahme genau liest, besteht die Welt «aus Grossmächten», und nur diese sowie «gigantische» Staatszusammenschlüsse sind der Souveränität würdig. Diese Sichtweise – die in den Machtsphären der EU weithin akzeptiert ist – stellt für kleine Länder wie die Schweiz eine Bedrohung dar.

Da die Frage der Souveränität auch im Zentrum der Debatte um das Rahmenabkommen Schweiz-EU steht, ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Monaten immer mehr Bürger, Politiker, Gewerkschafter und Unternehmer vom Bundesrat den Verhandlungsabbruch beim Rahmenabkommen Schweiz–EU verlangen.

* Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=mvMVFY_yO_0 (auf Englisch: ab Minute 2:20)

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