Zur schweizerischen Neutralität

Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen (1/2)

Verena Tobler-Linder
(Bild Kernkultur.ch)

von Verena Tobler-Linder,* Schweiz

(14. März 2023) (Red.) Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist die Schweizerische Neutralität arg in Bedrängnis geraten: Soll man einseitige Zwangsmassnahmen der EU und der USA mittragen oder nicht, sollen Munitions- und Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet möglich sein oder nicht, sind einseitige Stellungnahmen einzelner Bundesratsmitglieder bereits ein Bruch der Neutralität oder nicht? Solche und weitere Fragen werden in unserem Land zurzeit kontrovers diskutiert.

Im Dezember 2022 wurde eine eidgenössische Volksinitiative zur «Wahrung der schweizerischen Neutralität» lanciert. Sie bezweckt unter anderem die Festschreibung in der Verfassung der immerwährenden bewaffneten Neutralität und verlangt, dass die Schweiz ihre Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und für ihren Einsatz als Vermittlerin nutzt.

Verena Tobler-Linder hat sich zu diesen Fragen umfassende Gedanken gemacht, die die Stellung der Schweiz im Weltgeschehen beleuchten. Wir freuen uns, ihre Überlegungen – als ein Beitrag in unserer Reihe von Artikeln zur schweizerischen Neutralität – publizieren zu können. Der Beitrag ist leicht gekürzt und wird in zwei Teilen veröffentlicht.

* * *

Teil 1 – Einige Vorüberlegungen zur Neutralität

In einer ersten Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat Bundesrat Ignazio Cassis, zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht und zwar aus vielschichtigen Gründen – hier nur einige davon:

  • Kritik an der Neutralität gab’s seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.
  • Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern manchmal auch den Staat oft überfordert.
  • Die Bevölkerung hat sich durch die Einwanderung nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert nimmt der Anteil an Neuschweizerinnen in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute – direkt oder indirekt – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.
  • Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, je nachdem, an individuenzentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen – erstere nationalterritorial verortet, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.
  • Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungsethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert … und dann entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt oder publikumswirksam zelebriert.

Was tun in solch vertrackter Situation?

Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist «group think».1

«Gruppendenken» hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder-Oder – das sind Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.

Was wir stattdessen dringend brauchen, ist ein Grundkonsens

Ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen – und dazu gehören in der Schweiz beide: Neutralität und direkte Demokratie.

Die «direkte Demokratie» gibt den StimmbürgerInnen die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der BürgerInnen zu ihrem Staat und zu ihren MitbürgerInnen.

Denn lebendig bleibt die direkte Demokratie nur auf der Basis von «politischer Fairness». Diese schliesst ein:

  • die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,
  • den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren,
  • den Respekt, der allen zukommt – auch dem politischen Gegner.

Das ist der Boden, auf dem die direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen langfristig bestehen kann.

In diesem Sinn will ich im Folgenden über die «schweizerische Neutralität» nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.

Die eidgenössischen Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität»

«Neutralität» – eine unparteiische Haltung in internationalen Konflikten – beinhaltet das Verhältnis der Schweiz zu sich selbst und zur übrigen Welt: Nicht nur zu Europa und zum Westen, sondern zu jener weit grösseren «Restwelt», deren Bedeutung und numerisches Gewicht rasch zunimmt.

Weil derzeit die tradierte Neutralität der Schweiz von innen und von aussen bedroht ist, hat Altbundesrat Christoph Blocher eine Initiative angestossen. Konzipiert aber wurde die Neutralitäts-Initiative von einer parteienübergreifenden Gruppe, und zwar so, dass Herr Blocher weit – sogar sehr weit! – über seinen eigenen Schatten springen musste. Zu diesem Wagnis sei ihm herzlich gratuliert.

Von der tradierten Neutralität soll die bewaffnete Neutralität bewahrt werden. Die Schweiz beteiligt sich weder an Kriegen noch an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen und sie tritt auch keinen Militärbündnissen bei. Aber ganz und gar UNO-konform trägt sie jene Sanktionen mit, welche die UNO verhängt.

Die Volksinitiative – eine zukunftsweisende Chance für unser Land

Da heisst es nämlich:

«Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.» (Art. 54a, Abs. 4)

Dieser Passus ist ein Segen! – so wichtig, dass er Verfassungsrang braucht. Und zwar aus zwei Gründen:

Zum einen kann auf dieser Basis das IKRK weiterhin seine Arbeit machen:

  • auf beiden Seiten eines Kriegsgeschehens die Opfer unterstützen,
  • das Los der Flüchtlinge erleichtern,
  • Menschen in aller Welt vor staatlicher Willkür schützen.

Zum andern aber geht dieser Passus weit darüber hinaus: Die offizielle Schweiz wird dazu verpflichtet, sich aktiv für den Frieden zu engagieren. Denn die integrale Neutralität, die dem IKRK seine Arbeit ermöglicht, vermag das nicht. Deshalb soll unser Land künftig konfliktlösende und friedenstiftende Institutionen schaffen und anbieten, während seine «StaatsträgerInnen» an ein Amt gebunden sind, das sie verfassungsgemäss und auf verantwortungsethischer Basis zu erfüllen haben. Damit wird – hoffentlich! – auch in der Schweizer Bevölkerung wieder jene Besonnenheit ermöglicht, die für das gelingende Zusammenleben unverzichtbar ist.

«Neutralität der Besonnenen»

Gestützt auf dieses neue Neutralitätsverständnis wird die Schweiz zu einem weltoffenen Land: Zu einem Staat, in dem der Bundesrat, die Behörden und die BürgerInnen künftig lernen können, was nicht nur sie, sondern auch was andere brauchen, damit auf unserem Planeten ein gemeinsames und friedliches Überleben möglich wird.

Diesen neuen Spross habe ich «Neutralität der Besonnenen» getauft.

Besonnenheit braucht unser kleines Land, brauchen der Bundesrat, die Vereinigte Bundesversammlung, die Bundesbehörden und die StimmbürgerInnen, wenn in der Schweiz sowohl die Direkte Demokratie als auch der interne Frieden erhalten bleiben sollen. Besonnenheit braucht aber auch die grosse Welt – und zwar in Ost und West sowie in Süd und Nord, soll die Menschheit künftig auf sozial und ökologisch nachhaltiger Basis überleben.

Was aber meint Besonnenheit?

Laut Wikipedia ist das jene überlegte Gelassenheit, die sich in schwierigen Situationen ausreichend Verstand bewahren kann, so dass es nicht zu vorschnellen und unüberlegten Entscheidungen und Taten kommt. Während Besonnenheit auf den rationalen Aspekt verweist, fokussiert Gelassenheit den emotionalen: eine innere Ruhe – trotz Tohuwabohu und Ambivalenzen!

Gleichzeitig ist mit dem neuen Neutralitäts-Passus die Gefahr gebannt, dass die Schweiz – vor lauter Besonnenheit – gar nicht handelt. Im Gegenteil: Die Schweiz handelt! Aber nicht kriegerisch. Ihre politischen AmtsträgerInnen sind verantwortungsethisch eingebunden: am Ausgleich orientiert, auf Dienste verpflichtet, die Konflikte verhindern und lösen helfen.

Im Folgenden will ich die Behauptung, dass beide, die grosse Welt und die kleine Schweiz, auf Besonnenheit angewiesen sind, mit einem Blick nach aussen und mit einen Blick nach innen, in die Schweiz, unterlegen.

Ein Blick hinaus über die Zäune unseres Nationalstaats

Weshalb ist die grosse Welt – mehr denn je – auf Besonnenheit angewiesen?

«Earth for all»2 – die Folgeschrift auf «Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit», die Donella und Dennis Meadows 1972, vor 50 Jahren, verfasst haben – listet fünf Probleme auf, für deren Lösung es eine ausserordentliche Kehrtwende braucht.

Ich greife hier nur die zwei dringlichsten auf:3 Zum einen die klimatische und ökologische Bedrohung in Form der Klimaerwärmung und die sinkenden Biodiversität; zum andern die soziale Bedrohung: Die gewaltigen Ungleichgewichte zwischen arm und reich. Beide Probleme sind dramatisch miteinander verknüpft.

Wir stecken in einem Teufelskreis von wachsender Ungleichheit, sozialen Spannungen, gesellschaftlichen Zusammenbrüchen und Kriegen. Zwar kann die kleine Schweiz die grosse Welt nicht retten – was unser Land aber kann: Zum gelingenden Gang der Dinge beitragen.

Fakt ist: Kriege innerhalb und zwischen Staaten verunmöglichen, dass an der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Kriege bewirken, zumindest kurz- und mittelfristig, das pure Gegenteil davon. Der Ukrainekrieg ist nur eines von vielen Beispielen dafür. Konflikte zu verhindern und zu lösen, wird deshalb dringender denn je. Und präzis das plant die Neutralitätsinitiative der Schweiz in ihre Verfassung zu schreiben.

Kurz: Die Welt ist auf mehr Besonnenheit angewiesen und die Schweiz kann dazu beitragen!

Weshalb aber gebietet Besonnenheit der Schweiz, der Nato nicht beizutreten?

Eine weltoffene Schweiz schlägt sich nicht auf die Seite der westlichen Grossmächte. Wer ausreichend nüchtern ist, um genau hinzusehen, der weiss, dass die USA und andere Nato-Staaten seit Dekaden Kriege führen. Allein die USA haben seit 1991 251mal militärisch interveniert4 und zwar oft völkerrechtswidrig und stets mit gravierenden Schäden für die dortigen Menschen und deren Umwelt. Und horribile dictu: Es sind Kriege, die zunehmend im Namen der Menschenrechte bzw. der westlichen Werte und der Moral geführt werden, obwohl es oft um den Zugriff auf Ressourcen geht.

So kann es nicht weitergehen: Es reicht!

Auf der Basis der Neutralitätsinitiative mit ihrem Besonnenheitspassus haben die offiziellen VertreterInnen der Schweiz mit Blick auf die grosse Welt künftig einen verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen:

  • Sie haben dafür zu sorgen, dass Konflikte verstanden, verhindert, vermittelt werden können.
  • Sie haben über- oder allparteilich zu intervenieren – eine grosse und wunderbare Herausforderung!

Die Schweiz und ihre offiziellen VertreterInnen nehmen künftig Partei für den Frieden und den Ausgleich.

Die zweite Hälfte dieses Beitrags erscheint in unserem nächsten Newsletter (Nr. 10):

Teil 2 –Schweizer Neutralität und Einwanderung

Teil 3 – Neutralität oder Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten

* Verena Tobler Linder ist Soziologin, Ethnologin, Beraterin und Expertin für interkulturelle Kommunikation und Integration. Ihre Arbeit hat sie in viele muslimische Länder geführt: den Sudan, Liberia, den Iran, nach Afghanistan, Bangladesch, Kamerun, Pakistan. Sie war unter anderem für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) tätig. Über viele Jahre war sie Dozentin an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Zürich. Sie führte Lehr-, Kurs-, Beratungstätigkeiten aus für Spital-, Psychiatrie- und Gefängnispersonal, für Schulen, Mitarbeitende von Sozialämtern, Gemeinden, Gerichte, das Bundesamt für Flüchtlinge und Immigration. Seit 2002 arbeitet sie selbständig. Ihre Hompage ist www.kernkultur.ch.

1 «Group Think» wurde in der Entscheidungsforschung von Janis (1971) eingeführt, um damit das Zustandekommen unangemessener und fehlerhafter Entscheidungen in Gruppen zu erklären. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/gruppendenken

2 Sandrine Dixson-Declève et al.: «Earth for All: Ein Survival Guide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome». Oekom Verlag 2022. ISBN 978-3-96238-387-9.

3 Die anderen drei Kehrtwenden sind laut «Earth for All»: Ermächtigung der Frauen; ein für die Menschen und Ökosysteme gesundes Nahrungsmittelsystem; der Einsatz von sauberer Energie.

4 Congressional Research Service: Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1798 – 2022. Updated March 8, 2022. Siehe https://sgp.fas.org/crs/natsec/R42738.pdf

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