Zur schweizerischen Neutralität

Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen (2/2)

Verena Tobler-Linder
(Bild Kernkultur.ch)

von Verena Tobler-Linder,* Schweiz

(21. März 2023) (Red.) Der erste Teil dieses Artikels ist im Newsletter Nr. 9 vom 14. März publiziert worden und auf unserer Homepage verfügbar. Wir publizieren nun die abschliessenden zwei Teile dieses Beitrags.

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Teil 2 – Neutralität der Schweiz und Immigration

In der Schweiz leben Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt. Sie beeinflussen selbstverständlich auch unser gesellschaftliches und politisches Leben. Deshalb ist es wichtig, die Frage der Neutralität auch unter diesem Gesichtspunkt zu beleuchten.

Die Neutralität schreibt der Schweiz vor, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Als Privatpersonen dagegen können SchweizerInnen selbstverständlich auch künftig Partei nehmen und sich um die Probleme in aller Welt kümmern. Als eine, die lebenslang mit Migrierenden und Flüchtenden in und aus aller Welt und an den damit verbundenen Schwierigkeiten gearbeitet hat, bin ich aber seit langem überzeugt, dass in der Schweiz zwei Probleme anstehen. Zwei Schwierigkeiten, für deren konstruktive Lösung es ebenfalls Besonnenheit braucht.

Besonnene Neutralität ist nötig, damit unser Land nicht im Tohuwabohu endet

Die Bevölkerung der Schweiz hat sich in den letzten sieben Dekaden beinahe verdoppelt und zwar aufgrund einer Immigration, die zuerst aus den südlichen Staaten Europas stammte, heute zunehmend aus aller Welt kommt. Inzwischen ist vermutlich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung über die Einwanderung, die Eltern oder eine Heirat mit dem Ausland verbunden. Kurz: die Schweiz ist multiethnisch oder multikulturell, aber auch extrem heterogen zusammengesetzt und inzwischen – ebenso stark – soziokulturell polarisiert. Darüber mag man nun jubilieren oder jammern! Aber gelingt es nicht, mit diesen Faktoren besonnen umzugehen, riskiert unser Land sich politisch aufzureiben – weiter zu zersplittern – auseinanderzufallen – unterzugehen!

Wichtig für eine konfliktlösungsorientierte Aussen- und Innenpolitik ist es zu wissen, dass die meisten Neulinge in unserem Land im internationalen System aufgestiegen und in die Schweiz gekommen sind, weil es ihnen hier besser geht. Sogar Deutsche wandern ein, weil sie hier mehr verdienen. Sofern die Immigrierten aber aus dem armen Teil der Welt stammen, gehörten sie oder ihre Eltern meistens der dortigen Mittel- oder Oberschicht an. Das gilt sogar für Kriegs- und Armutsflüchtlinge, denn die Ärmsten können selten weg!

Und sofern sie inzwischen eingeschweizert wurden – und das sind viele –, haben sie oft ihren Pass behalten oder besitzen sogar mehrere Pässe. Ein Kurde hat mir empfohlen, sie als «NeuschweizerInnen» zu bezeichnen. Viele davon, wenn auch nicht alle, nehmen selbstverständlich weiterhin und oft sehr aktiv am Geschick ihrer einstigen Heimat teil. Das ist gut so und darf auch so bleiben.

Ihr politisches Engagement in Ehren: Das soll und darf Sache der immigrierten Personen bleiben.

Die offizielle Schweiz darf sich nicht in die Konflikte der Herkunftsländer einmischen

Erstens hegen manche Immigrationsgruppen Umsturzpläne mit Blick auf ihr Heimatland und haben unter sich entsprechende heftige politische Differenzen – das ist kein Vorwurf: beides darf sein! Ihr politisches Engagement also in Ehren: Die offizielle Schweiz soll sich nicht darin verwickeln lassen. Sonst haben wir nicht nur den Parteiensalat, sondern dann nimmt das Tohuwabohu in unserem Land massiv zu.

Bereits rufen iranische NeuschweizerInnen dazu auf, die Schweiz solle den Iran sanktionieren. Möchte-gern-Bundesrat Daniel Jositsch nahm dieses Begehren – bezeichnender Weise just noch vor den Bundesratswahlen – sofort auf. Dass er damit gegen wichtige Grundsätze im Völkerrecht verstösst,1 ist dem Sozialdemokraten wohl genauso entgangen, wie dass Immigrierte aus der Türkei, aus Kurdistan, Eritrea oder Sri Lanka diese Einmischungspraxis ebenfalls einfordern könnten.

Im Zürcher Tagblatt habe ich vor Jahren gelesen, die Stadt Zürich beherberge Menschen aus 157 Nationen. Direkt damit verbunden die Gretchenfrage: Soll die Schweiz sich nun künftig in die inneren Angelegenheiten der Länder in aller Welt einmischen? Eine Hybris, welche die Neutralitätsinitiative untersagt: Die Schweiz trägt einseitige Zwangsmassnahmen (Sanktionen) nur mit, wenn diese von der UNO formell beschlossen wurden.

Zweitens ist es nicht nur unklug, sondern kontraproduktiv, wenn sich wirtschaftsmächtigere Staaten in die Innenpolitik von ärmeren Staaten einmischen. Diese Einmischungen sind weder demokratisch noch zielführend, weil unsachgemäss. Sicher: In vielen armen Ländern sind, genauso wie bei uns in der Schweiz, künftig Systemveränderungen nötig. Aber die Bevölkerung der betreffenden Staaten hat sich für Veränderungen zu entscheiden, die eigenständig aufgegleist und über die demokratisch entschieden wird.

Derzeit ein Kampf, bei dem die dortigen Ober- und Mittelschichten oft in der Minderheit sind. Das gilt nicht nur für den Iran, aus dem sich die Oberschichten und viele Gebildete in den Westen abgesetzt haben – in die USA, nach Österreich, in die Schweiz. Es gilt prinzipiell, nämlich überall in den Staaten und für die Bevölkerungen, die in der ungleichen Weltwirtschaft am unteren Ende platziert sind oder an den Rand geraten sind.

Arabischer Frühling – gescheitert

Was die Einmischung von aussen und oben bringt, sei am Beispiel von Ägypten erläutert: Denn was der liberale Westen 2011 als «arabischen Frühling» bezeichnete und aktiv unterstützt hatte, war zum Scheitern verurteilt.

Von jugendlichen Netz-AktivistInnen lanciert, von den städtischen Mittelschichten beflügelt und von George Soros’ «Open Society Foundations»2 unterstützt, wurde Mubarak zwar gestürzt – zweifellos ein Despot! Er hatte das Militär zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor ausgebaut, so dass andere Wirtschaftsagenten kaum Geschäfte führen oder gründen konnten. Auch demokratische Verfahren waren unmöglich.

Vorauszusehen aber war, was bei demokratischen Wahlen passiere würde. Denn für die Bevölkerungsmehrheit, vorab für die vielen Armen in den Städten und auf dem Land, gab es keine staatlich organisierte Umverteilungs- und Solidarinstitutionen.

Der überfamiliale Ausgleich wurde seit Dekaden von den Moscheen und den Muslimbrüdern auf der Basis von religiösen Regeln organisiert – etwas, das der Westen und Kairos liberal orientierten Wohlstandskinder übersehen hatten, ja verabscheuten und bekämpften: System- und strukturblind dafür, dass in einem Staat, in dem die formelle Erwerbsarbeit einer Minderheit vorbehalten ist, modernistische bzw. individualistische Werte aus strukturellen Gründen nicht oder nur selten demokratisch durchgesetzt werden können.

Besonders peinlich für den Westen: Als General Abdel Fattah al-Sisi den demokratisch gewählten Präsidenten Mursi stürzte, herrschte weitherum Erleichterung. Und als der Präsident, der sich an die Macht geputscht hatte, dann Hunderte Islamisten ermorden liess, den demokratisch gewählten Mursi samt seinen Regierungsmitgliedern ins Gefängnis steckte und ohne ausreichend rechtliche Grundlagen zahlreiche Todesurteile vollstrecken liess, schauten alle weg!

Alle, die sich angeblich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte engagieren. Und die Schweiz? Sie macht bei dieser Drückebergerpolitik regelmässig mit – zu gewichtig ihre wirtschaftlichen Interessen; zu blind für die Schatten der liberalen Weltwirtschaft.

Wer nota bene ausreichend systembewusst ist, der weiss auch, dass die westlichen Hilfsprogramme in Afghanistan oder Haiti die dortigen Armutsprobleme in keiner Weise lösen, weil sie nicht sachgerecht sind. Im Gegenteil: Sie führen zu potemkinschen Staaten, fördern die vertikale Integration und führen langfristig in die wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe.3

Wie erwähnt: Die liberale Optik fokussiert die Individuen und blendet aus, dass individuelle Freiheiten und Rechte wirtschaftliche Kapazitäten voraussetzen, die in armen Staaten fehlen. Die Welt lässt sich nicht von aussen und von oben integrieren! Es sei denn auf der Basis von extremen Ungleichgewichten und, direkt damit verbunden, einem ungeheuerlichen Totalitarismus.

1 Generalversammlung der UNO 24.10.1970 – Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts: Der eine wichtige Grundsatz betrifft die Pflicht, im Einklang mit der Charta, sich nicht in Angelegenheiten einzugreifen, die zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Der andere ist: Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker.

2 Vgl. NZZ, 14. Mai 2019: «Wie George Soros vom Messias zum Volksfeind wurde».

3 Ich erlaube mir eine ausführliche Anmerkung: Denn mit «Vertikaler Integration» bezeichne ich jenen vieldimensionalen Prozess, der jene Regeln, Prozesse, Mechanismen erfasst, die im Wirtschaftsliberalismus dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ungleichgewichte zwischen und innerhalb der Staaten weiter zunehmen. «Vertikale Integration» hat zum Resultat, dass sich die wirtschaftliche und politische Macht zunehmend im transnationalen Hochoben konzentriert, d.h. sich in der Verfügungsgewalt von immer weniger, aber dafür mächtigeren Unternehmungen, Personen, Staaten befinden. «Vertikale Integration» beschreibt jenen Teufelskreis, der die Ungleichgewichte laufend verstärkt. « Vertikale Integration» passiert:
a) über den Markt: Durch Unternehmungen, die mit mehr Kapital und den besseren energetisch-technologischen Apparaturen ausgestattet sind, über das raffiniertere wissenschaftliche Knowhow und die effizientere Organisationskapazität verfügen. Diese bewirken im transnationalen Kontext, dass schwächere Unternehmungen gar nicht erst aufkommen, aus dem Feld geschlagen oder aufgefressen werden.
b) Über transnationale Strukturen: Export von Landwirtschaftsprodukten und Rohstoffen aus den wenig entwickelten Ländern; Export von High-Tech-Produkten aus den hoch entwickelten Ländern – mit entsprechend sinkenden Terms of Trades für die landwirtschaftlichen Produkte der armen Staaten und einer enormen Massierung der Macht bei der Regierung im export-finanzierten armen Staat.
c) über die transnationale Migration: Die ungleichen Lebensstandards in reichen und armen Staaten oder Regionen lösen die Migration von Süd nach Nord aus mit dem Resultat: Abwanderung aus armen Staaten, Zuwanderung in reiche Staaten – also Brain Gain für die HDC, Brain Drain für die LDC. Und der Irrsinn: All diese Menschen bewegen sich von dort, wo man in der Regel noch einen kleinen ökologischen Fussabdruck hat, in jene Staaten, die für ihren Wohlstand 3, 4, ja 6 und mehr Planeten verkonsumieren.
d) Auch internationale Hilfe: Entwicklungszusammenarbeit, der Kampf für Menschenrechte können – müssen aber nicht! – einen Beitrag zur «Vertikalen Integration» leisten. Entwicklungszusammenarbeit kann wichtige Voraussetzungen für Entwicklung bereitstellen: Ausbildung, Brückenbau, Strassenbau, Gesundheitsversorgung. Werden jedoch die Wirtschaftsregeln nicht so verändert, dass auch im armen Staat horizontale wirtschaftliche Verflechtungen mit lokaler Kapitalakkumulation, Gewerbebetrieben, KMUs und einer ausreichenden Zahl an Arbeitsplätze, lokalen Märkten und eine ebensolche Nachfrage möglich werden, passiert ebenfalls «Vertikale Integration». Denn solange die Bevölkerungsmehrheit keine formelle Erwerbsarbeit hat, weder Steuern noch Abgaben leisten kann, sind weder staatlich organisierte Solidarinstitutionen noch Demokratien möglich, die ihren Namen verdienen. Entwicklungszusammenarbeit, die nicht dafür sorgt, dass effektive Entwicklung möglich wird, bringt viele «nur» auf den Geschmack: Sie wandern – sofern sie nicht mehr oder nicht bei den NGOs angestellt sind –in hoch entwickelte Staaten ab. Jüngstes Beispiel für diese Form der «Vertikalen Integration» ist die Abwanderung der einstigen westlichen Hilfskräfte aus Afghanistan.

Teil 3 – Neutralität oder Einmischung in innere Angelegenheiten fremder Staaten

Demokratie und Menschenrechte lassen sich nicht von aussen und oben implementieren

Besonnene Neutralität verzichtet darauf, system- und strukturblind zu moralisieren!

Derzeit mehren sich die Stimmen, die sich unbedarft aus dem wirtschaftlichen und juristischen Hochoben der westlichen Wohlfahrtsstaaten in die internen Belange und Auseinandersetzungen in aller Welt einmischen.

Auch die offizielle Schweiz läuft Gefahr, gegenüber Staaten in Afrika und Asien diesen arroganten Kurs einzuschlagen und system- und strukturblind auf die arme oder auf die traditionale Restwelt hinunter zu moralisieren.

Besonnene Alt- und NeuschweizerInnen warnen davor, das Hohelied von Menschenrechten und westlichen Werten zu singen, ohne die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den westlichen Rechtsstandard zu bedenken. Wir sind mit Widersprüchen und Ambivalenzen konfrontiert: Ambiguitätstoleranz ist erforderlich.

Das Folgende ist kein Plädoyer gegen die Menschenrechte! Ich plädiere dafür, genauer hinzusehen.

Denn bereits 1948, als der Menschenrechtskatalog erarbeitet wurde, wiesen die Vertretungen der sechs sozialistischen Staaten darauf hin, dass einige der Menschenrechte an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden sind. Sie forderten deshalb ein Menschenrecht auf wirtschaftliche Teilhabe – ein Recht, das vom damals machtmässig weit überlegenen Westen abgeblockt wurde. Deshalb haben sich die sozialistischen Staaten in der Schlussabstimmung der Stimme enthalten.

Wie unsachgemäss und arrogant das system- und strukturblinde Moralisieren aus dem weltwirtschaftlichen Hochoben ist, sei zum Schluss an der Geschlechtergleichstellung und an der «One Love»-Kampagne illustriert.

Die Gleichstellung von Mann und Frau braucht wirtschaftliche, technologische und infrastrukturelle Voraussetzungen

Nota bene ist die Gleichstellung ein wichtiges Ziel, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Aber was der Westen beharrlich ignoriert, sind die Voraussetzungen finanzieller, energetisch-technologischer, medizinischer und institutioneller Art, die es für diese Gleichstellung braucht.

Konkret: Was hat mich denn als Frau befreit?

Fliessendes Wasser und Elektrizität, Waschmaschine, Staubsauger, Geschirrspülautomat etc., Binden, Tampons und «die Pille» sowie eine gute Bildung und Ausbildung. Dazu kommt eine ausreichende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen, für die keine Spitzenmuskelkraft erforderlich ist. Dann die Kindergärten und Schulen, die Krippen und Horte, in denen unsere Kinder versorgt werden.

Ebenso teuer: Der aufwändige Rechtsapparat, der inzwischen in der Schweiz sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Familie, sogar manchmal bis ins Ehebett für Ordnung sorgt – alles Errungenschaften, die im armen Teil der Welt für den Grossteil der Frauen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu haben sind.

Die «One Love»-Kampagne

Die «One Love»-Kampagne hat 2022 an der Fussball-Weltmeisterschaft im arabischen Golfstaat Katar einen neuen Höhepunkt erreicht: eine Kampagne, die von einer Bewegung getragen wird, die sich seit drei Dekaden lauthals – wie an der Züricher Street-Parade – und publikumswirksam – wie die deutsche Innenministerin in Katar – in Szene setzt und das dank der neuen Medien auch immer effektiver gelingt. Als die Fussballer aufgefordert wurden, eine «One Love»-Armbinde zu tragen, hat die FIFA diese öffentliche Inszenierung westlicher Werte gestoppt und damit «on the spot» für eine Quasi-Ordnung gesorgt.

Weit wichtiger: Die ganze Kampagne ist, obwohl ich persönlich die Anliegen der LGBTQ-Community durchaus verstehe und ernst nehme, erschreckend system- und strukturblind! Wir haben es erneut mit Moralisieren zu tun, statt mit einer Moral, die ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen beachtet und sich auf ihre institutionellen Rahmenbedingungen besinnt.

Die LGBTQueers fragen nämlich nie, was das alles kostet: künstliche Befruchtung & Besamung; Leihmutterschaft; Geschlechtsumwandlung etc.

Auch nicht wie und von wem ihre «Anything goes»-Wünsche finanziert werden sollen.4 Stattdessen wird unethisch, weil weder auf den Kontext noch auf die verfügbaren Ressourcen bezogen, ignoriert, dass im Jahr 2021 4100 Millionen Menschen ohne monetär abgesicherte Solidarnetze überleben mussten.5 Das heisst: bis heute sind für die Hälfte der Menschheit die eigenen Kinder die Altersversicherung! Es sei denn, die Kirchen, die Moscheen, die Tempel helfen.

Konkret: Im armen Teil der Welt sind die Menschen, wenn sie alt und schwach werden, auf die Unterstützung ihrer physiologischen Kinder angewiesen. Deshalb ist in armen Staaten aus höchst rationalen Gründen auch die Homosexualität oft verpönt oder wird unter Umständen sogar bestraft.

Nota bene sind die nichtmonetär abgesicherten Solidarinstitutionen ein gewichtiger Grund dafür, dass im armen Teil der Welt vielerorts auch an verbindlichen Verwandtschafts-, Generationen-, Geschlechtsrollen festgehalten wird.

Richtig: Es sind Ordnungsvorstellungen, die den Menschenrechten widersprechen bzw. mit den Erwartungen der LGBTQ-Community und von vielen Feministinnen unvereinbar sind! Doch wenn wir genauer hinsehen, sind die Gründe dafür wirtschaftlicher Art: Sie haben zu tun mit den weltweiten Ungleichgewichten und der damit verbundenen mangelnden energetisch-technologischen Ausrüstung, mit der geringen Zahl an formellen Erwerbsarbeitsplätzen und entsprechend mit den fehlenden überfamilialen Solidarinstitutionen.

Besonnene NeuschweizerInnen aus armen Ländern messen die Zustände in ihrer alten Heimat deshalb nicht am Schweizer Lebensstandard. Auch nicht am hiesigen De-Luxe-Rechtskonsum. Sie kennen die Ursachen der Armut in ihrem Herkunftsland und sind mit den Gründen für deren «menschenrechtliche Besonderheiten» vertraut. Und genauso wie die Besonnenen unter den AltschweizerInnen wissen sie, dass jedes Recht an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden ist, wenn es denn verlässlich und konstruktiv zum Tragen kommen soll.

Beide, besonnene Alt- und NeuschweizerInnen, sind sich bewusst, dass die anstössigen und problematischen Ungleichgewichte sich im Rahmen des westlichen Weltwirtschaftens herausgebildet haben: Wer einst über mehr Kapital und den effizienteren energetisch-technologischen Machtapparat verfügte, der konnte früher die Welt kolonisieren. Und er kann sie bis heute beherrschen.

Nur passiert das seit der Entkolonialisierung über den Freihandel und seit den 1970er-Jahren noch effektiver im Rahmen der vier neoliberalen Freiheiten. Das sind die Grundlagen nicht nur für das Blocher’sche Wirtschaftsimperium, sondern für alle Schweizer Konzerne, die im Ausland erfolgreich sind und selbstverständlich auch für unseren Wohlfahrtsstaat.

Es hat also nicht nur mit firmenspezifischen, sondern auch mit nationalen Interessen zu tun: mit dem energetisch-technologischen, finanziellen und juristischen Machtapparat, der unserem Land für den Zugriff auf die Ressourcen zur Verfügung steht. Und wer noch genauer hinsieht, wird irritiert oder sogar erschreckt feststellen, dass – damals wie heute – das mit dem Machtapparat assoziierte Machtgefälle und die damit verbundenen unmenschlichen Zumutungen mit einer angeblich höheren Kultur, einer besseren Moral und zivilisatorischen, westlichen Werten legitimiert werden.

Fazit und Ausblick

Karl Marx hat einmal gesagt: Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Kolonialisierung, Slavenhalterei, Ausbeutung – die einstige Tragödie. Und die heutige Farce? Das system- und strukturblinde Moralisieren, wie es heute von Woke-Linken und zahlreichen westlichen StaatschefInnen und AmtsträgerInnen betrieben wird. Ein Wertegeschwurbel, das die realen Interessen verdeckt.

Wer wirklich sensibel ist, der wird feststellen, dass dieses Gerede sowohl die Gemeinschaften und Gesellschaften als auch die Mehrheit der Frauen und Männer an den weltwirtschaftlichen Rändern abwertet und immer tiefer in Not und Bedrängnis bringt. Wer noch genauer hinsieht, wird auch erkennen, dass sogar jene Menschen in den USA, die von Hillary Clinton als die «Deplorables» bezeichnet wurden, ebenfalls mit im Boot dieser Aussätzigen sitzen.

Veränderungen sind dringend nötig! Bei uns in der Schweiz und selbstverständlich auch in der armen Welt. Was es für diese Veränderungen aber sicher nicht braucht, sind Kriege. Auch kein system- und strukturblindes Moralisieren – erst recht nicht im Namen der Menschenrechte!

Was es hingegen für die nötigen Veränderungen und für universelle Menschenrechte dringend braucht, sind neue Weltwirtschaftsregeln: Regeln, die einen Ausgleich zwischen arm und reich ermöglichen und die es uns erlaubt, weltweit an der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit zu arbeiten.

Dafür legen besonnene Alt- und NeuschweizerInnen ihre Hand ins Feuer.

Deshalb gilt: Lassen wir in der demokratischen Schweiz das Lagerdenken und die Schwarz-Weiss-Malerei hinter uns. Stehen wir ein für die Volksinitiative «JA zur Neutralität». Sie öffnet der Schweiz das Tor zu jener informierten und weltoffenen Besonnenheit, von der letztlich, da bin ich mir schier sicher, nicht nur besonnene Alt- und NeuschweizerInnen, sondern auch system- und strukturblinde Alt- und NeuschweizerInnen träumen.

*  Verena Tobler Linder ist Soziologin, Ethnologin, Beraterin und Expertin für interkulturelle Kommunikation und Integration. Ihre Arbeit hat sie in viele muslimische Länder geführt: den Sudan, Liberia, den Iran, nach Afghanistan, Bangladesch, Kamerun, Pakistan. Sie war unter anderem für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) tätig. Über viele Jahre war sie Dozentin an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Zürich. Sie führte Lehr-, Kurs-, Beratungstätigkeiten aus für Spital-, Psychiatrie- und Gefängnispersonal, für Schulen, Mitarbeitende von Sozialämtern, Gemeinden, Gerichte, das Bundesamt für Flüchtlinge und Immigration. Seit 2002 arbeitet sie selbständig. Ihre Hompage ist www.kernkultur.ch.

4 Ich war im Jahr 2000 an einen feministischen Kongress geladen, um dort über die Situation der Frauen im armen Teil der Welt zu referieren. Am Schluss der Tagung forderten LGBTQ-AktivistInnen ein neues Menschenrecht: Jeder Mensch soll nach der Geburt eigenständig sein Geschlecht bestimmen können. In der Schlussrunde stellte ich die Frage, wer denn dieses Recht finanzieren soll. Der Jurist Rainer Schweizer leitete die Diskussion und schloss sie mit der Bemerkung: «Jetzt haben wir alle Fragen beantwortet ausser jene von Verena Tobler. Und ich gebe zu, auch ich habe mir diese Frage noch nie gestellt. Aber ich versichere ihr: Ich nehme sie jetzt mit mir nach Hause!»

5 Eine Welt Nr. 2 / Juni 2022; DEZA-Magazin für Entwicklung und Zusammenarbeit: S. 25

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