Neutralität hat nichts mit Gefühllosigkeit und mangelnder Solidarität zu tun
(13. März 2022) Red. Missverständlich und entgegen der guten Tradition des Landes schloss sich der Bundesrat am 28. Februar 2022 den weitreichenden Sanktionen der EU gegen Russland an. Die Schweiz ist weder EU- noch Nato-Mitglied, noch ist sie Teil eines Bündnisses mit der Ukraine oder mit Russland. Erwartet wurde vom Bundesrat eine diplomatisch ausgewogene und schweizerische Lösung.
Die Stellungnahme Berns stiess neben begeisterter Zustimmung, nun endlich auf der «richtigen» Seite zu stehen, im In- und Ausland auch auf grosses Unverständnis. Unser Land riskiert seinen bisherigen humanitären Handlungsspielraum für die Guten Dienste, das IKRK und als neutraler Standort für internationale Organisationen zu verspielen. Ausserdem droht der Kleinstaat Schweiz in die Fallstricke der Weltpolitik zu geraten.
Unsere Online-Publikation «Schweizer Standpunkt» hat sich bei ihrer Gründung die Stellungnahme Carl Spittelers «Unser Schweizer Standpunkt» als Grundlage genommen.1
Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir daraus einige Auszüge.
Vorbemerkung:
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich in der Schweiz zwischen dem deutschsprechenden und dem französischsprechenden Landesteil ein deutlicher Stimmungsgegensatz entwickelt. Angesichts dieser für den Zusammenhalt des Landes gefährlichen Zerreissprobe, sah es der Schriftsteller und spätere Literatur-Nobelpreisträger Carl Spitteler (1845–1924) als seine Bürgerpflicht an, eine vernunftbetonte, neutrale Haltung der Schweiz zu formulieren.
Carl Spitteler gelang es in seiner Rede, einen «Schweizer Standpunkt» herauszuarbeiten: Neutral im Krieg zu sein, heisst nicht, gefühllos zu sein oder ohne Anteilnahme für den Nachbarn zu bleiben. Das Elend der anderen – welcher Nationalität auch immer – berührt uns. Der Zufall, in einem neutralen Staat zu leben und nicht in die Kriegswirrnisse verwickelt zu werden, darf jedoch nicht hochmütig machen, sondern fordert zur Bescheidenheit auf.
Intellektuell differenziert und mit viel Einfühlungsvermögen zeigte Spitteler vor über 100 Jahren eine Haltung auf, die zwischen menschlichen Gefühlen, Staaten im Krieg, Nationalismus und Neutralität unterscheiden kann und heute so aktuell ist wie damals.
Über die vergangenen Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges bis hin zur Gegenwart mit ihrer ungehemmten Globalisierung gelang es der Schweiz immer wieder, eine neutrale und vermittelnde Rolle einzunehmen.
Ein Schweizer Standpunkt, eine kluge, menschliche und von Bescheidenheit geprägte Position zur Wahrung von Gerechtigkeit und Neutralität – nicht nur in Zeiten roher Gewalt – fand und findet weltweit Aufmerksamkeit. Diese Einstellung nicht aufzugeben, sondern mit Blick in die Welt aufrecht weiterzutragen, ist die herausfordernde Aufgabe.
«Unser Schweizer Standpunkt»2
von Carl Spitteler*
«[…] Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet.
Er kann das mit dem Verstande, wenn er ihn gewaltig anstrengt, aber er kann es nicht mit dem Herzen. Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig. Darum erregt schon unser blosses Dasein Anstoss. Anfänglich wirkt es unangenehm befremdend, allmählich die Ungeduld reizend, schliesslich widerwärtig, verletzend und beleidigend. Vollends ein nicht zustimmendes Wort! Ein unabhängiges Urteil!
Der patriotisch Beteiligte ist ja von dem guten Recht seiner Sache heilig überzeugt und ebenso heilig von dem schurkischen Charakter der Feinde. Alles in ihm, was nicht schmerzt, was nicht hofft und bangt, was nicht weint und trauert, knirscht Empörung. Und nun kommt einer, der sich neutral nennt, und nimmt wahrhaftig für die Schurken Partei! Denn ein gerechtes Urteil wird ja als Parteinahme für den Feind empfunden. Und kein Verdienst, kein Ansehen, kein Name schützt vor der Verdammnis.
Im Gegenteil. Dann erst recht. Denn dann wird einem neben Untreue und Verrat noch Undank vorgeworfen. Wie im Felde nach den Offizieren, zielt man in den Schreibstuben nach den berühmten Leuten. Bald gibt es ihrer keinen mehr, der nicht schon verketzert und aus irgendeinem Tempel feierlich ausgeschlossen worden wäre. Man wird ganz konfus. Man weiss nicht mehr, gereicht man der Menschheit zur Zierde, oder gehört man zum Auswurf. Wie aber können wir so gefährlichen Drohungen begegnen?
Wer schweigen darf, preise sich glücklich, dass er’s darf, und schweige. Wer es nicht darf, der halte es mit dem Sprichwort: Tue, was du sollst, und kümmere dich nicht um die Folgen. Um unsere neutralen Seelen zu retten, kommen uns ferner Propagandaschriften ins Haus geflogen. Meist überlaut geschrieben, öfters im Kommandoton, mitunter geradezu furibund. Und je gelehrter, desto rabiater.
Dergleichen verfehlt das Ziel. Es wirkt wenig einladend, wenn man beim Lesen den Eindruck erhält, die Herren Verfasser möchten einen am liebsten auffressen. Haben denn die Herren die Fühlhörner verloren, dass sie nicht mehr spüren, wie man zu andern Völkern spricht und nicht spricht? Allen solchen Zumutungen gegenüber appellieren wir von dem wild gewordenen Freund an den normalen, friedlich-freundlichen, den wir nach Kriegsschluss wieder zu finden hoffen, wie überhaupt den gesamten frühern schönen, traulichen, unbefangenen Geistesverkehr. […]
Die richtige Haltung aus dem Herzen schöpfen
Meine Herren und Damen. Die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam, wie sich’s anhört, wenn man’s logisch auseinanderlegt. Ja!, wenn man’s im Kopf behalten müsste! Aber man braucht es gar nicht im Kopf zu behalten, man kann es aus dem Herzen schöpfen.
Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen?
Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache.
Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab.
Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.»
* Carl Spitteler lebte von 1845 bis 1924. Der studierte Theologe arbeitete als Lehrer, Redaktor, freier Journalist und schliesslich als freier Schriftsteller. 1919 erhielt Carl Spitteler als erster gebürtiger Schweizer den Nobelpreis für Literatur. Mit seiner Rede vom Dezember 1914 mit dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» setzte er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs für eine vernunftbetonte, neutrale Haltung der Schweiz ein, die den inneren Zusammenhalt des Landes stärken sollte. |
Quelle: Auszüge aus der Rede von Carl Spitteler «Unser Schweizer Standpunkt» gehalten vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft am 14. Dezember 1914 in Zürich. (Zwischentitel Redaktion)
1 Vgl. https://www.schweizer-standpunkt.ch/warum-ein-schweizer-standpunkt.html
2 Sie finden die vollständige Rede als PDF hier: https://www.schweizer-standpunkt.ch/warum-ein-schweizer-standpunkt.html?file=files/schweizer_standpunkt/PDF/2020/de/Spitteler_d_20200930.pdf&cid=2312