Das Aushöhlen der Neutralität untergräbt auch das internationale Genf. Doch Genf schweigt …

von Guy Mettan,* Genf

(9. August 2024) Mit seiner Entscheidung im Februar 2022, sich den einseitigen europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen Russland anzuschliessen, obwohl er immer behauptet hatte, nur von den Vereinten Nationen gebilligte und im Völkerrecht verankerte Sanktionen anwenden zu wollen, hat der Bundesrat, die Schweizer Regierung, der Neutralität und dem internationalen Genf einen schweren Schlag versetzt. Doch in Genf rührte sich niemand. Hier wird erklärt, was der Grund dieses Nicht-Reagierens ist.

Guy Mettan
(Bild zvg)

Im Prinzip hätte diese fatale Entscheidung,1 die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK, dessen Ruf für Unparteilichkeit und Unabhängigkeit weitgehend auf der Schweizer Neutralität beruht, doch sehr beunruhigt hat, zu einem donnernden Protest führen müssen. Neben dem IKRK und den «Genfer Konventionen»,2 deren Depositarstaat die Schweiz ist, und den humanitären Anliegen und Menschenrechten, für die sich unser Land angeblich einsetzt, hätte diese Entscheidung auch all jene beunruhigen müssen, die unsere Berufung als Gastland internationaler Organisationen und als Hauptstadt des Multilateralismus hoch schätzen. Dies war aber nicht der Fall. Stattdessen forderten lokale und föderale Politiker, insbesondere aus dem linken Spektrum, noch mehr Sanktionen, Verurteilungen, Boykotte und die Beschlagnahmung von Privatvermögen gegen diejenigen, die die Ukraine so «brutal angegriffen» hatten. Dieselben Abgeordneten hatten aber nichts dagegen einzuwenden, dass die Ukraine zwischen 2014 und 2022 im Donbass 14 000 Menschen, darunter Tausende von unschuldigen Zivilisten und auch Kinder, massakrierte. Und sie rühren sich nicht und fordern keine Sanktionen, wenn ein anderer Staat, im konkreten Fall Israel, Zehntausende von unschuldigen Zivilisten in Palästina umbringt und illegal fremde Gebiete besetzt.

Anfang Juni protestierten NGO-Aktivisten und Gewerkschafter der «Internationalen Arbeitsorganisation»3 gegen die Wahl eines ihrer russischen Kollegen in den Vorstand der Organisation. Aber als das «Wall Street Journal» in seiner Ausgabe vom 29. Juni die giftigen Praktiken und den Rassismus einiger Führungskräfte des «World Economic Forum» (WEF) anprangerte, schwiegen die sonst so um gute Zwecke bemühten Aktivisten. Sie protestierten auch nicht, als der Bundesrat als Gipfel der Provokation für eine Stadt, die sich rühmt, eine Stadt des Friedens zu sein und zahlreiche Organisationen beherbergt, die den Dialog zwischen Ländern fördern, die sich im Krieg befinden, die Eröffnung eines Büros der NATO in dem nunmehr eher peinlich benannten «Haus des Friedens» bekannt gab – jener NATO, die in den letzten Jahrzehnten für zahlreiche Angriffskriege verantwortlich war, man denke etwa an die Bombardierung Serbiens im Jahr 1999. Vor zwei Tagen, am 15. Juli 2024, hat der Direktor der Direktion für Völkerrecht des Schweizer Aussenministeriums ein Abkommen über den rechtlichen Status des NATO-Verbindungsbüros in Genf unterzeichnet.4

Sie freuten sich, als Russland, ein Gründungsmitglied und ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, aus dem Menschenrechtsrat ausgeschlossen wurde. Sie zuckten mit den Schultern und spotteten, als der russische Vizeaussenminister erklärte, dass die Kaukasus-Gespräche nicht mehr in einer Schweiz stattfinden können, die parteiisch und feindlich geworden sei, und dass wir uns daher von weiteren Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten verabschieden könnten, wie sie zum Beispiel 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow oder auch im Juni 2021 zwischen Biden und Putin stattgefunden haben. Sie bedauerten und seufzten, als das CERN sich weigerte, Russland von seiner Atomforschung auszuschliessen und lediglich seine Teilnahme aussetzte, obwohl es ein Pionier des Ost-West-Tauwetters war, indem es 1960, mitten im Kalten Krieg, die ersten sowjetischen Physiker aufnahm. (CERN hat nicht alle Verbindungen zu Russland abgebrochen, siehe dazu RTS, 7. Juli 2024.)5

Die Stadt Genf, bis jetzt ein internationaler Platz für Konferenzen und
Vermittlungsgespräche. Doch der Entscheid der Schweizer Regierung,
die Neutralität aufzugeben, wird Genf in die Bedeutungslosigkeit
bringen. (Bild zvg)

Die geopolitische Lage hat sich total verändert …

Das Gravitationszentrum des Planeten verschiebt sich, die Welt zerbricht, die Spannungen nehmen zu, ein neuer Feuervorhang hat den alten Eisernen Vorhang tausend Kilometer weiter östlich auf dem europäischen Kontinent ersetzt, eine unüberwindbare Mauer der Verachtung trennt den Westen vom Globalen Süden, der jetzt die grosse Mehrheit an Menschen und Dollars hat, wenn man die neuesten Zahlen der Weltbank in Bezug auf das konsolidierte BIP in Kaufkraftparität betrachtet. Aber warum sich um solche Details kümmern!

Ist es Verblendung? Masochismus? Unbewusste Neigung zum Selbstmord? Oder im Gegenteil ein scharfes Bewusstsein für die eigenen kurzfristigen Interessen? Zweifellos ein wenig von allem, aber mit einem klaren Übergewicht des vierten Erklärungsfaktors.

Um die fehlende Reaktion und die Sprachlosigkeit verstehen zu können, gegenüber dessen, was man als Untergrabung der Grundlagen wahrnimmt, was das internationale Genf in den letzten 150 Jahren ausgemacht hat, müssen einige grundlegende Elemente in Erinnerung gerufen werden.

Die letzte Studie über die Auswirkungen des internationalen Sektors auf die lokale Wirtschaft, die am 5. März 2024 von der «Stiftung für Genf»6 veröffentlicht wurde, zeigt, dass das internationale Genf im engeren Sinne, das heisst die Aktivitäten der internationalen Organisationen, diplomatischen Vertretungen und NGOs, die am See ansässig sind, 33 000 Vollzeitarbeitsplätze, Tausende von Konferenzen jedes Jahr und massive Spendeneinnahmen generiert. Hinzu kommt der internationale Handelssektor. Die 2133 im Kanton registrierten privaten multinationalen Unternehmen, insbesondere Banken und Handelsunternehmen, stellten 153 000 direkte Arbeitsplätze und im Total waren es 221 000 Arbeitsplätze im Jahr 2019, und sie generierten mehr als 2,5 Milliarden Franken Steuereinnahmen. Diese beiden Sektoren sind miteinander verbunden, sie sind gewissermassen ein Biotop und leben in einer für Genf typischen gegenseitigen Abhängigkeit.

Die Bevölkerung des Kantons, mit 47% Ausländern und Doppelbürgern, spiegelt diese wirtschaftliche Realität perfekt wider. In der Tat schafft der internationale öffentliche und private Sektor heute jeden zweiten Genfer Arbeitsplatz und trägt 67% zur kantonalen Wertschöpfung bei. Es ist daher verständlich, dass man unter diesen Bedingungen nicht die Hennen mit den goldenen Eiern töten will und lieber alle möglichen Vorsichtsmassnahmen ergreift, um die Hähne, die den Stall bewachen, nicht zu verärgern.

Eine aufschlussreiche Studie

Noch aufschlussreicher für diese Abhängigkeit ist eine im Juni dieses Jahres vom «Geneva Graduate Institute» veröffentlichte Studie (Paying for Multilateralism: Taking Stock on the Financing of International Organizations in Geneva, 2000–2020, by Livio Silvia-Muller & Remo Gassmann). Diese zeigte, dass jene westlichen Länder, die Mitglieder der G7 und der Europäischen Union sind, 92% der 253,7 Milliarden US-Dollar an Beiträgen für die 16 wichtigsten internationalen Organisationen in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufbrachten: die USA 26%, Grossbritannien 8%, die EU 7%, Deutschland 6,6%. Die Schweiz lag mit 2,2% auf Platz 13.

Im Detail zeigt sich, dass 15 Geber 75% der Beiträge leisteten, darunter 14 Staaten und ein privater Geber, die Bill und Melinda Gates Stiftung (3,7% des Gesamtbetrages oder 9,4 Milliarden US-Dollar über 20 Jahre). Die Mittelzuflüsse haben sich in zwei Jahrzehnten verfünffacht und belaufen sich bis 2020 auf 23,6 Milliarden US-Dollar. Die Sektoren Gesundheit (11,5 Milliarden im Jahr 2020) und humanitäre Hilfe (Flüchtlinge, Migranten und IKRK, 9 Milliarden) sind die Hauptbegünstigten. Es sei am Rande bemerkt, dass eine Organisation wie das WEF, die vollständig privat ist, aber 2015 einen von der Schweiz anerkannten Status als internationale Organisation (und damit eine Steuerbefreiung) erhielt, jährlich zwischen 350 und 400 Millionen Franken an Einnahmen aus ihren Foren erzielt.

Für die Schweiz ist dies ein sehr gutes Geschäft. Mit einer Nettoinvestition in Infrastruktur und Gebäude von 3,2% und jährlichen Beiträgen von 350 Millionen pro Jahr profitiert sie von hundert Prozent der Beiträge und Gebühren, die von anderen Ländern gezahlt werden.

Wer zahlt, befiehlt!

Kurz gesagt: Wer zahlt, befiehlt! Wenn der Westen beschliesst, ein Drittland zu sanktionieren, und sei es auch ein so wichtiges Land wie Russland, halten sich Bern und Genf bedeckt und haben nichts dagegen einzuwenden.

Wird sich diese unterwürfige Haltung langfristig auszahlen? Das ist nicht so sicher. Die Autoren der Studie stellen im Übrigen die Frage nach der Abhängigkeit von diesen grossen Gebern und dem grössten von ihnen, den USA, in einer Welt, die in Aufruhr ist und inmitten eines multipolaren Umschwungs mit einem aufstrebenden Süden und der Ausweitung der BRICS-Staaten. Ohne Lösungen anzubieten. Die Diversifizierung der Finanzierung in Richtung Privatwirtschaft ist nicht ungefährlich, wie man an der Bedeutung der Gates-Stiftung im Bereich der Impfstoffe und ihrer wachsenden Macht über die WHO seit der Covid-Krise gesehen hat.

Diese Abhängigkeit vom Westen steht in krassem Widerspruch zum Prinzip des Multilateralismus, dessen Fackelträger Genf zu sein vorgibt. Sie führt in eine Sackgasse, aus der kein Ausweg erkennbar ist. Auf der einen Seite sieht der Westen keinen Sinn darin, seine Kontrolle über die internationalen Organisationen zugunsten von Staaten zu lockern, die ihrer Meinung nach nicht den richtigen Preis für ihren Platz zahlen. Die Länder des Südens haben ihrerseits kein Interesse daran, ihre Beiträge für Organisationen zu erhöhen, die von den Ländern des Nordens kontrolliert werden und auf die sie keinen Einfluss haben, wie man an der Blockade der Reform des UNO-Sicherheitsrates sehen kann, der nicht in der Lage ist, Indien, Brasilien oder Afrika einen Platz einzuräumen.

Es ist nicht sicher, ob die Schweiz langfristig die richtige Wahl getroffen hat, als sie im Februar 2022 ihre Neutralität opferte, um sich dem westlichen Lager anzuschliessen. Durch die Bevorzugung einer Block-gegen-Block-Strategie wird sie nicht nur in Bezug auf ihre Sicherheit wenig gewinnen, sondern auch an Universalität verlieren. Damit schwächt sie ihren Platz auf der internationalen Bühne nachhaltig. Sie sabotiert ihre Berufung als Vermittlerin zwischen kriegführenden Staaten und ihre Rolle als Gastland des europäischen Sitzes der Vereinten Nationen und als globaler Sitz der wichtigsten internationalen Organisationen.

Letztendlich wird ein hoher Preis fällig, um Ländern zu gefallen, die uns nicht einmal dafür dankbar sein werden.

* Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit
20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments.

Quelle: Erstveröffentlichung auf https://globalbridge.ch/die-aushoehlung-der-neutralitaet-untergraebt-das-internationale-genf-aber-genf-schweigt/, 17. Juli 2024

1 vgl. https://globalbridge.ch/die-schweiz-hat-ihre-neutralitaet-beerdigt-ich-schaeme-mich-dafuer/, 8. März 2022

2 https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/voelkerrecht/humanitaeres-voelkerrecht/genfer-konvention.html

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Arbeitsorganisation

4 https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-101857.html

5 https://www.rts.ch/info/sciences-tech/2024/article/le-cern-n-a-pas-coupe-tous-ses-liens-avec-la-russie-28560113.html

6 https://www.fondationpourgeneve.ch/

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