Internationale Gesundheitsvorschriften

Anpassung oder Rückweisung

Vorschriften der WHO sollen uns schützen – wollen wir sie?

von Dr. med. Sabine Vuilleumier-Koch

(29. November 2024) (CH-S) Im Mai 2022 hat die «Weltgesundheitsversammlung» (WHA) der WHO beschlossen, deren «Internationale Gesundheitsvorschriften» (IGV) anzupassen – sie zu «stärken». Die Begründung liess aufhorchen: die «Corona-Pandemie» habe Schwachstellen in der internationalen «Zusammenarbeit» offenbart, Lücken müssten nun geschlossen werden. Sogleich formierte sich breiter Widerstand. Während Bundesrat und «Bundesamt für Gesundheit» (BAG) in den am 1. Juni 2024 von der WHA verabschiedeten Änderungen der IGV kein Problem sehen, plädiert eine starke Opposition für ein «opting-out», eine Zurückweisung der Änderungen an den Absender. – Die Entscheidung muss bis spätestens 19. Juli 2025 fallen.

Insgesamt neun Vorstösse hat es im schweizerischen Parlament gebraucht, um die vom Bundesrat am 13. November eröffnete Vernehmlassung1 zu den IGV zu ermöglichen. Zuvor sah es danach aus, dass der Bundesrat die geänderten IGV ohne Beteiligung der Parlamentarier, geschweige denn der Bevölkerung, im stillen Kämmerlein abnicken würde. Die Parlamentarier hatten die Brisanz der Änderungen der IGV erkannt und Mitsprache verlangt. Insbesondere sehen sie die Souveränität der Gesundheitspolitik durch den zunehmenden Machtanspruch der WHO – einer hauptsächlich durch private Geldgeber finanzierten Organisation – bedroht.

Pandemieabkommen noch offen

Eigentlich sollte an der WHA 2024 in Genf auch ein neues Pandemieabkommen von den Vertragsstaaten verabschiedet werden. Die Uneinigkeiten waren aber so gross, dass der Abschluss verschoben wurde. Das Abkommen soll nun bis Ende 2024 vorliegen und im Mai 2025 in der WHA zur Abstimmung gelangen. Bundesrätin Baume-Schneider hat zugesichert, dass es dem Parlament vorgelegt wird. – Eine am 14. November 2024 an die Öffentlichkeit gelangte neue Version dieses WHO-Abkommens wurde bereits einer juristischen Analyse unterzogen.2

Das Bundesamt für Gesundheit plädiert für Anpassung

Das BAG bejaht die angepassten IGV; die Bevölkerung könne besser vor den Folgen der nächsten Pandemie geschützt werden. Für die Umsetzung der Änderungen seien «keine Gesetzesanpassungen notwendig».3

Das BAG möchte vom Bundesrat als «nationale IGV-Behörde» designiert werden. Mit diesem Begriff gemeint ist gemäss Artikel 1 der IGV, «… die zur Koordinierung der Durchführung dieser Vorschriften» innerhalb der Schweiz eingerichtete Stelle. Das BAG soll also mit direktem Draht zur WHO deren Vorschriften koordinieren und dafür sorgen, dass sie umgesetzt werden.

Die andere Sicht

Eine ganz andere Sicht auf die IGV haben Rechtsanwälte, Mediziner, Publizisten, Politiker mit unterschiedlichem fachlichem, gesellschaftlichem oder parteipolitischem Hintergrund. Ihre Hauptfrage ist nicht, ob unsere Gesetze angepasst werden müssen oder nicht, sondern, ob wir die Anpassungen der IGV überhaupt übernehmen wollen und welches ihre Konsequenzen für unsere Gesundheitspolitik und die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern sind.

Rechtsanwalt Philipp Kruse wies bereits am Nachmittag des 1. Juni 2024 im Rahmen einer Pressekonferenz von Juristen aus neun verschiedenen Ländern darauf hin, dass über die Anpassungen der IGV in der WHA eigentlich gar nicht abgestimmt werden dürfe. Die Verfassung der WHO verlangt, dass der endgültige Wortlaut den Mitgliedstaaten mindestens vier Monate im Voraus vorliegen muss. Praktisch bis zur letzten Minute wurden aber Änderungen durchgeführt, womit sie unrechtmässig zustande kamen.

Die IGV umfassen 66 Artikel und 9 Anlagen. Sie auferlegen den Mitgliedstaaten der WHO, ihren Regionen und Gemeinden enorme Pflichten. Als Beispiel wird hier Artikel 5 –(«Überwachung») – genannt. Der Artikel verweist auf Anhang 1, der die sogenannten Kernkapazitäten minutiös regelt: «Erforderliche Kernkapazitäten für Verhütung, Überwachung, Vorbereitung und Reaktion» müssen «von den Vertragsstaaten innerhalb von 5 Jahren aufgebaut werden». So sollen von den Staaten bis hinunter zu «Gemeinschaften» alle auf eine vom Generalsekretär der WHO definierte «pandemische Notlage» oder «gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite» vorbereitet sein und darauf entsprechend den Vorgaben der WHO reagieren können. – Die damit einhergehende Machtfülle der WHO wird weder durch Qualitätskontrolle noch durch Korrekturmechanismen eingeschränkt – unter dem Motto «die WHO irrt nie».

Im Rahmen der Vernehmlassung kann zu den IGV bis spätestens am 27. Februar 2025 Stellung bezogen werden. Wer sich an die Arbeit machen will, dem stehen verschiedene Unterlagen zur Verfügung:4 die Vernehmlassungsvorlage (die IGV 2005 mit den Änderungen in deutsch), ein erläuternder Bericht des BAG, zwei Begleitschreiben der zuständigen Bundesrätin, Frau Baume-Schneider (SP), die Adressatenliste und unter «Diverses» in englisch die «Mitteilung an die Vertragsstaaten über Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005)», überbracht von Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO. Ausdrücklich weist er darauf hin: «Nach Artikel 59 und Artikel 61 der IHR steht den Vertragsstaaten eine Frist zur Verfügung, um die Änderungen 2024 abzulehnen oder Vorbehalte zu äussern, wenn sie dies wünschen.»

Bereits hat sich das «Aktionsbündnis freie Schweiz» mit einer Online-Petition zu Wort gemeldet.5 Der für den juristischen Laien anspruchsvolle Text der IGV wurde von Juristen durchgeackert und ihre Erkenntnisse stehen nun einer breiten Leserschaft zur Verfügung. Aufmerksamkeit und Teilnahme an der Auseinandersetzung um die IGV sind gefragt.

1 https://www.fedlex.admin.ch/de/consultation-procedures/explanations-cp. «Als Vernehmlassungsverfahren wird diejenige Phase innerhalb des Vorverfahrens der Gesetzgebung bezeichnet, in der Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer oder kultureller Tragweite auf ihre sachliche Richtigkeit, Vollzugstauglichkeit und Akzeptanz hin geprüft werden. Die Vorlage wird zu diesem Zweck den Kantonen, den in der Bundesversammlung vertretenen Parteien, den Dachverbänden der Gemeinden, Städte und der Berggebiete, den Dachverbänden der Wirtschaft sowie weiteren, im Einzelfall interessierten Kreisen unterbreitet.»

2 https://abfschweiz.ch/wp-content/uploads/Artikel-20-11-24.pdf

3 Irritierend ist hier die Tatsache, dass eine vom Bundesrat vorgeschlagene Revision des im Zusammenhang mit den IGV entscheidenden Gesetzes, des Epidemiengesetzes (EpG), noch nicht vom Parlament «abgesegnet» ist, bzw. noch nicht einmal die Auswertung von dessen Vernehmlassung vorliegt. Mit der Aussage des BAG, es müssten keine gesetzlichen Anpassungen gemacht werden, verstärkt sich allerdings der Verdacht, in die vorgeschlagene Revision des EpG seien in vorauseilendem Gehorsam bereits die Anpassungen der IGV eingefügt worden.

4 https://www.fedlex.admin.ch/de/consultation-procedures/ongoing#https://fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/2024/87/cons_1

5 https://opting-out-igv.ch

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