Frieden als Menschenrecht

Alfred de Zayas (Bild zvg)

25 Grundsätze der internationalen Ordnung zur Sicherung eines nachhaltigen Friedens

von Alfred de Zayas,* Genf

(6. Dezember 2022) Das Motto des Westfälischen Friedens von 1648, «Pax Optima Rerum»,1 Frieden ist das höchste Gut, erinnert uns daran, dass selbst nach dem monströsen Dreissigjährigen Krieg mit seinen acht Millionen Toten der Frieden in Europa durch diplomatische Verhandlungen wiederhergestellt werden konnte. Es gab keine Sieger.In der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg dient die Charta der Vereinten Nationen als universelle Verfassung, eine auf Regeln basierende internationale Ordnung, die mit verschiedenen Foren für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten ausgestattet ist.

Gemäss Artikel 2 Absatz 3 der Charta besteht eine vertraglich festgelegte Verpflichtung, sich zusammenzusetzen und zu verhandeln. Unnachgiebigkeit ist keine Option. Nach Artikel 39 der Charta ist der Sicherheitsrat befugt zu entscheiden, wann eine Handlung oder Unterlassung eine Bedrohung oder einen Bruch des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt. Die Provokationslust und die Weigerung, Gespräche zu führen, stellen in der Tat eine solche Bedrohung des Friedens dar.

Im Ukraine-Konflikt ist es die Nato, die eine Beendigung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg gemäss den Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 und nun seit Beginn der Feindseligkeiten im Februar verhindert. Die Nato will einen militärischen Sieg über Putin und lehnt Kompromisse ab.

Der Ukraine-Krieg begann nicht 2022, sondern bereits mit dem verfassungswidrigen Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, im Februar 2014. In dem Bemühen, eine friedliche Lösung zu finden, verhandelte Russland über die OSZE und das Normandie-Format – vergeblich.

Seit Februar 2022 hat die Nato einen Kompromiss verhindert. Bereits im März 2022 kam es dank türkischer Vermittlung zu einer tragfähigen Vereinbarung. Sowohl die Ukraine als auch Russland waren bereit, das Gemetzel zu beenden. Die USA griffen ein und sorgten dafür, dass es keinen Frieden, sondern einen langen Krieg geben würde. Die Verlängerung eines Krieges stellt ein Verbrechen gegen den Frieden und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verbietet nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern auch die Androhung der Anwendung von Gewalt. Die Ausdehnung der Nato bis an die Grenzen Russlands stellt eine spürbare Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands dar. Die Osterweiterung der Nato konnte nicht als «defensiv» interpretiert werden, da von Russland keine Bedrohung ausging. Gorbatschow war ein Mann des Friedens. Er stimmte der Auflösung des Warschauer Paktes zu – von der stillschweigenden Übereinkunft ausgehend, dass auch die Nato aufgelöst werden würde.

In der Tat wollte Russland normale Beziehungen zum Westen. Präsident Bill Clinton nutzte die selbst verschuldete Schwäche Russlands aus und hielt sich nicht an die Versprechen von G.H.W. Bushs Aussenminister James Baker. Sicherlich bringt Macht zunächst Straffreiheit mit sich, aber früher oder später gibt es Gegenwind.

Meine 25 Grundsätze der internationalen Ordnung, die ich dem UNO-Menschenrechtsrat im März 2018 vorgestellt und in meinem Buch «Building a Just World Order» (2021)2 neu veröffentlicht habe, erklären, dass Frieden ein grundlegendes Menschenrecht ist, eine Voraussetzung für den Genuss aller anderen Menschenrechte – bürgerliche, kulturelle, wirtschaftliche, politische und soziale Rechte.

Die Rechtsgrundlage für diese Grundsätze bilden die UNO-Charta, die wichtigsten UNO-Konventionen, unter anderem das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen sowie die wichtigsten Resolutionen der Generalversammlung, darunter die Resolutionen 2131 (XX), 2625 (XXV), 3314 (XXIX), 39/11 und 55/2, 60/1.

ISBN 978-1949762426 und ISBN 978-1949762525

Grundsatz 1 besagt:

Der Friede ist nicht der Friede der Friedhöfe, wie in Tacitus' Agricola, solitudinem faciunt, pacem appellant (mache eine Einöde und nenne sie dann Frieden). Die UNO-Charta verpflichtet alle Staaten, Frieden mit Gerechtigkeit zu fördern. In der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta heisst es, dass das Hauptziel der Organisation die Förderung und Erhaltung des Friedens ist.

Dazu gehört die Verhütung lokaler, regionaler und internationaler Konflikte und im Falle eines bewaffneten Konflikts die Durchführung wirksamer Massnahmen zur Friedensschaffung, zum Wiederaufbau und zur Versöhnung. Die Herstellung und Lagerung von Massenvernichtungswaffen stellen eine ständige Bedrohung des Friedens dar.3 Daher ist es notwendig, dass die Staaten in gutem Glauben über den Abschluss eines weltweiten Vertrags über allgemeine und vollständige Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle verhandeln.4

Frieden erfordert eine gerechte Weltordnung, die durch die schrittweise Beseitigung der Konfliktursachen, einschliesslich extremer Armut, Privilegien und struktureller Gewalt, gekennzeichnet ist. Um einen weltweiten Frieden zu erreichen, müssen die Voraussetzungen für den Frieden geschaffen und gesichert werden, wozu auch die wirtschaftliche Entwicklung und eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung gehören. Das Motto der Internationalen Arbeitsorganisation verdient es, als universelles Motto für unsere Zeit anerkannt zu werden: si vis pacem, cole justitiam (wenn du Frieden willst, kultiviere die Gerechtigkeit).

Grundsatz 18 besagt:

Die Nichteinmischung ist Völkergewohnheitsrecht. Kein Staat darf subversive, terroristische oder bewaffnete Aktivitäten, die auf den gewaltsamen Sturz des Regimes eines anderen Staates gerichtet sind, organisieren, unterstützen, schüren, finanzieren, dazu anstiften oder dulden oder sich in innere Unruhen in einem anderen Staat einmischen.

Grundsatz 19 besagt:

Die Staaten müssen es unterlassen, sich in Angelegenheiten einzumischen, die in die innere Hoheitsgewalt eines anderen Staates fallen. Sie dürfen keine wirtschaftlichen, politischen oder sonstigen Zwangsmassnahmen zur Nötigung eines anderen Staates einsetzen, um von ihm die Unterordnung der Ausübung seiner Hoheitsrechte zu erreichen.

Einseitige Zwangsmassnahmen sind mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar. Nur der Sicherheitsrat kann Sanktionen nach Kapitel VII der Charta verhängen. Wenn einseitige Zwangsmassnahmen zu weit verbreitetem Hunger und Tod führen, können sie nach Artikel 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs5 Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Zwar ist die Förderung der Menschenrechte ein legitimes internationales Anliegen, und es besteht eine erga omnes-Verpflichtung der Vertragsstaaten des ICCPR und des ICESCR, für ihre Durchsetzung zu sorgen. Die so genannten Doktrinen der «humanitären Intervention» und der «Schutzverantwortung» sind missbraucht worden, wie das Chaos zeigt, das durch die Instrumentalisierung der Resolution 1973 des Sicherheitsrats durch die USA über das libysche Volk gebracht wurde, und zwar nicht zum Zwecke der humanitären Hilfe, sondern zur Herbeiführung eines «Regimewechsels».6

Mein demnächst erscheinendes Buch «The Human Rights Industry» [Die Menschenrechtsindustrie] wird dokumentieren, wie die Vereinten Nationen, das Amt des Hochkommissars für Menschenrechte, viele internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen weitgehend im Dienste Washingtons und Brüssels stehen, wie die edlen Prinzipien von Frieden, Demokratie und Menschenrechten gegen geopolitische Rivalen instrumentalisiert wurden.

Ein kurzer Blick auf das Abstimmungsverhalten der USA, des Vereinigten Königreichs und der EU-Staaten in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat und ein Vergleich mit dem Abstimmungsverhalten Chinas und Russlands verrät, wer für Frieden und internationale Solidarität eintritt und wer nicht.

So stiess beispielsweise am 5. November 2022 eine UN-Resolution, die sich gegen Nazi-Ideologien richtete, auf den Widerstand der USA und ihrer Verbündeten – insgesamt 52 Länder stimmten dagegen. Der vom Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen eingebrachte Resolutionsentwurf zur Bekämpfung von «Praktiken, die dazu beitragen, zeitgenössische Formen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz zu schüren», wurde mit 105 Stimmen angenommen.

Die unerbittliche Kriegshetze und Aufstachelung zum Hass, die von zahlreichen Nato-Ländern mit aktiver Unterstützung der Mainstream-Medien betrieben wird, verstösst gegen Buchstaben und Geist der UN-Charta. Darüber hinaus verstösst die vulgäre Russophobie und Sinophobie, die von beweislosen Behauptungen und Fake News begleitet wird, gegen Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.

Was noch nicht allgemein verstanden wird, ist, dass die Nato heute eine existenzielle Bedrohung für den Planeten darstellt, weil sie aufgrund ihrer aggressiven Rhetorik, der Eskalation der Spannungen und ihrer Weigerung zu verhandeln das Schicksal der menschlichen Spezies aufs Spiel setzt. Dieser US-amerikanisch-europäische Streit über die Ukraine würde die Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nicht beunruhigen, wäre da nicht die wachsende Gefahr eines Atomkriegs.

Aufgrund der Angriffskriege, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von den Nato-Streitkräften in den letzten 30 Jahren in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien begangen wurden, könnte die Nato ausgehend von den Artikeln 9 und 10 des Nürnberger Statuts von 1945 leicht als «kriminelle Organisation» betrachtet werden.

In einer vernünftigen Welt würden die von Nato-Politikern und -Soldaten begangenen Verbrechen vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gerichtlich untersucht und verfolgt. Die Mainstream-Medien werden Ihnen das nicht sagen, aber Sie selbst können unabhängig zu dieser Schlussfolgerung kommen. Res ipsa loquitur [Die Fakten sprechen für sich].

* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/11/11/peace-as-a-human-right, 11. November 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 A. de Zayas. «Peace» in William Schabas, ed. Cambridge Companion to International Criminal Law, Cambridge, 2016, S. 97–116.

2 https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/

3 Der UN-Menschenrechtsausschuss gibt regelmässig «allgemeine Kommentare» heraus, um den Anwendungsbereich seiner Bestimmungen zu verdeutlichen. Siehe die Allgemeinen Kommentare Nr. 6 und 14 zum Recht auf Leben, in denen die Herstellung und Lagerung von Massenvernichtungswaffen, die das Leben auf der Erde zerstören können, verurteilt werden. https://www.refworld.org/docid/453883f911.html
https://www.refworld.org/docid/45388400a.html

4 https://www.un.org/disarmament/wmd/nuclear/tpnw/    https://news.un.org/en/story/2020/10/1076082

5 Siehe meinen Bericht 2018 an den Menschenrechtsrat über meine Mission in Venezuela https://undocs.org/A/HRC/39/47/Add.1 , Abs. 34–39. Siehe auch die vorläufigen Schlussfolgerungen der UN-Sonderberichterstatterin über einseitige Zwangsmassnahmen, Alena Douhan.

6 https://www.un.org/securitycouncil/s/res/1973-%282011%29. Siehe auch https://www.rt.com/news/russia-nato-un-resolution-libya; https://foreignpolicy.com/2016/03/22/libya-and-the-myth-of-humanitarian-intervention; https://www.e-ir.info/2019/02/06/to-what-extent-was-the-nato-intervention-in-libya-a-humanitarian-intervention
A.B. Abrams. «World War In Syria», Clarity Press 2021. https://www.claritypress.com/book-author/a-b-abrams

Zurück