Erpressung der internationalen Strafjustiz
von Alfred de Zayas,* Genf
(25. Mai 2024) Der Ankläger und die Richter des «Internationalen Strafgerichtshofs» (IStGH) sind verpflichtet, sich an das «Römische Statut» zu halten und es einheitlich anzuwenden, ohne Präferenzen oder Doppelmoral. Andernfalls werden sie ihre Autorität und Glaubwürdigkeit einbüssen. Sie müssen der Erpressung durch ein Land widerstehen, das versucht, den Gerichtshof für geopolitische Zwecke zu instrumentalisieren.
Eine Kapitulation vor der Androhung illegaler Sanktionen durch die USA würde die internationale Rechtsstaatlichkeit, die unsere Zivilisation über Jahrhunderte hinweg aufgebaut hat, untergraben. Nicht nur der Gerichtshof selbst, sondern auch die 124 Staaten, die dem IStGH-Statut beigetreten sind,1 zwischenstaatliche Organisationen und die Zivilgesellschaft müssen dagegen einschreiten. Studenten an Universitäten in aller Welt demonstrieren bereits und fordern Rechenschaft und einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza.
Antrag des Chefanklägers entspricht Ziel und Zweck des IStGH
Der Antrag des Chefanklägers des IStGH, Karim Khan, an den Gerichtshof, israelische und Hamas-Führer anzuklagen, entspricht Ziel und Zweck des IStGH.2 Er wird durch den einstimmigen Bericht eines Expertengremiums unterstützt, das den Ankläger beraten hat.3 Angesichts des anhaltenden Völkermords in Gaza und der ungeheuerlichen Verbrechen, die von beiden Seiten begangen wurden, ist es notwendig und logisch, gerichtliche Ermittlungen einzuleiten.Das Schwestergericht des IStGH, der Internationale Gerichtshof (IGH), der ebenfalls in Den Haag ansässig ist, ist bereits mit den völkerrechtlichen Fragen befasst, die sich in den Fällen Südafrika vs. Israel und Nicaragua vs. Deutschland stellen.
Zur Geschichte des IStGH
Der IStGH ist seit Juli 2002 tätig, aber seine 22-jährige Geschichte ist durch einen schwierigen Anfang gekennzeichnet, und viele Staaten haben begonnen, seine Legitimität in Frage zu stellen, da er bisher nur Prozesse gegen Afrikaner geführt und westliche Staatsführer vor Kritik verschont hat. Viele Beobachter sind sogar der Meinung, dass der IStGH zu einem Instrument der westlichen neokolonialen Politik geworden ist.
Dies zeigt sich daran, dass das Gericht es versäumt hat, westliche politische und militärische Entscheidungsträger anzuklagen, obwohl drei Staatsanwälten gut dokumentierte Schriftsätze vorgelegt wurden, insbesondere im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan und im Irak, einschliesslich der Folterungen in Abu Ghraib, Mosul und Guantanamo.
Viel an Glaubwürdigkeit verloren
Der IStGH hat viel an Glaubwürdigkeit verloren, als er dem massiven Druck der USA und den illegalen Sanktionen nachgab, die der damalige US-Präsident Donald Trump im Jahr 2020 gegen die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda und ihre Mitarbeiter verhängte.4 Sie hatte versucht, Berichte über Kriegsverbrechen der US-amerikanischen, australischen und deutschen Streitkräfte in Afghanistan zu untersuchen. Dieser Eindruck der Voreingenommenheit wurde bestätigt, als der neue IStGH-Ankläger Karim Khan 2021 ankündigte, dass sein Büro die Ermittlungen zu US-Verbrechen einstellen, die Untersuchung von Verbrechen der Taliban jedoch fortsetzen werde. Diese offenkundig politische Entscheidung wurde von Menschenrechtsgruppen weltweit verurteilt.
Obwohl US-Präsident Joe Biden die von Trump gegen den IStGH verhängten Sanktionen 2021 aufhob, wurden im US-Senat erneut Stimmen laut, dass der IStGH für seine Dreistigkeit, Anklagen gegen israelische Führer zu erheben, «bestraft» werden müsse.
US-Senator Lindsey Graham schlug vor, mit Aussenminister Antony Blinken zusammenzuarbeiten, um parteiübergreifende Sanktionen gegen den IStGH zu beschliessen, «nicht nur wegen der empörenden Vorwürfe gegen Israel, sondern auch, um in Zukunft unsere eigenen Interessen zu schützen». Blinken antwortete: «Ich begrüsse es, mit Ihnen daran zu arbeiten.»
Kurz darauf schickten Menschenrechtsgruppen einen Brief an Präsident Biden, in dem sie ihn aufforderten, sich allen gesetzgeberischen Bemühungen zur Unterminierung des IStGH zu widersetzen: «Die Sanktionen der vorherigen Regierung [...] brachten die Vereinigten Staaten auf eine Linie mit der autoritären Taktik, Richter und unabhängige juristische Institutionen zu bedrohen.»5
Frontalangriff auf das Wesen des Völkerrechts
Die erneuten Drohungen der USA, Sanktionen gegen den IStGH zu verhängen, sind ein Frontalangriff auf das Wesen des Völkerrechts und der internationalen Ordnung. Sie stellen die Unabhängigkeit der internationalen Justiz und den Sinn und Zweck des IStGH in Frage, der darin besteht, alle Berichte über Verstösse gegen das Römische Statut zu untersuchen, insbesondere das Verbrechen der Aggression (Art. 5), Völkermord (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) und Kriegsverbrechen (Art. 8).
Leider ist diese Art amerikanischer «Hartball-Diplomatie» ein Déjà-vu, da die USA schon seit langem Druck auf den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und sogar den Internationalen Gerichtshof selbst ausüben.
Strafgerichtshof am Scheideweg
Nun steht der Strafgerichtshof an einem Scheideweg. Er hat die Möglichkeit, die Hoffnungen der Menschheit auf Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu erfüllen, oder er kann sich dem animus dominandi der Vereinigten Staaten und der europäischen neokolonialen Mächte beugen.
Wenn die IStGH-Richter den israelischen Premierminister Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant nicht anklagen, wie von Ankläger Karim Khan empfohlen, riskiert der IStGH einen massiven Austritt der Mitglieder aus dem Römischen Statut, denn es wird nur allzu offensichtlich werden, dass der IStGH sein Mandat aufgegeben hat und nicht einmal versucht hat, den Völkermord in Gaza mit juristischen Mitteln zu stoppen. Der IStGH würde damit nicht nur die Palästinenser, sondern die gesamte Menschheit im Stich lassen.
Die Afrikanische Union hat bereits vor einigen Jahren über einen Massenaustritt aus dem Statut diskutiert, weil sie die mangelnde Objektivität der Ankläger und Richter bemängelt. Wenn Netanjahu nicht angeklagt wird, wäre das der letzte Nagel am Sarg.
Straflosigkeit nicht mehr akzeptabel
Als internationaler Anwalt bin ich optimistisch, dass der IStGH die Haftbefehle ausstellen wird. Straflosigkeit ist im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptabel. Ebenso wenig kann es Straffreiheit für die Beihilfe zum Völkermord durch militärische, politische, diplomatische, wirtschaftliche und propagandistische Unterstützung der Täter geben.
Am 22. Mai reichte das Genfer Friedensforschungsinstitut (GIPRI)6 beim Staatsanwalt des IStGH eine Klage gegen Ursula von der Leyen wegen Mittäterschaft am Völkermord im Gazastreifen ein.7 Der Fall liegt nun beim Internationalen Strafgerichtshof. (Siehe Anhang)
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 https://asp.icc-cpi.int/states-parties
2 https://www.counterpunch.org/2024/05/23/the-icc-is-doing-its-job/
3 https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2024-05/240520-panel-report-eng.pdf
4 https://ccrjustice.org/factsheet-us-sanctions-international-criminal-court
5 https://www.hrw.org/news/2024/05/23/biden-should-oppose-us-sanctions-icc
https://atrocitieswatch.org/publications/human-rights-groups-urge-president-biden-to-oppose-us-sanctions-on-icc/