Zusammenarbeit und Konflikt in der Arktis
Werden die BRICS zu einer arktischen Institution?
von Prof. Glenn Diesen,* Norwegen
(14. April 2025) Die Zusammenarbeit in der Arktis war traditionell weitgehend immun gegen geopolitische Einflüsse. Selbst während der Grossmachtkonflikte des Kalten Krieges wurde die Zusammenarbeit in der Arktis zum gegenseitigen Nutzen und zur Vertrauensbildung fortgesetzt. Diese Ära scheint nun zu Ende zu gehen.

(Bild zvg)
In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Beziehungen zwischen den Nato-Ländern und Russland stetig verschlechtert, und die Arktis ist zunehmend zum Schauplatz konkurrierender Interessen geworden. Die Entscheidung des kollektiven Westens, die Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat wegen des Krieges in der Ukraine auszusetzen, deutet darauf hin, dass eine verlässliche Zusammenarbeit in der Arktis wahrscheinlich ein Ende hat. Da Russland seine Abhängigkeit von Nato-Staaten verringert und die Zusammenarbeit mit nicht-arktischen Mächten im hohen Norden verstärkt, ist zu erwarten, dass BRICS schliesslich auch zu einer arktischen Institution wird.
Vom gemeinsamen Interesse zum konkurrierenden Interesse
Lange Zeit galt die Arktis als eine gefrorene Wüste ohne viele konkurrierende strategische Interessen, die Rivalität schüren würden. Dies sicherte eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Umweltschutz, wissenschaftliche Entdeckungen, Schutz indigener Völker, wirtschaftliche Sicherheit und anderen Bereichen der positiven Zusammenarbeit, die von der Machtpolitik ausgenommen sind.
Während die Arktis wärmer wird und das Eis zurückgeht, offenbart sich die Region als eine unglaubliche Schatzkammer. Grosse Mengen an Energieressourcen können nun gefördert werden, und ein arktischer Seetransportkorridor, der nicht der Kontrolle der US-Marine unterliegt, kann konkurrierende Transportkorridore sowohl in Bezug auf die Zeit als auch auf die Kosten übertreffen. In der Folge bieten sich in der Arktis grosse wirtschaftliche Möglichkeiten, die dazu beitragen können, das geoökonomische Kräfteverhältnis in der Welt vom Westen in den Osten zu verlagern, was bedeutet, dass in Zukunft mit Wettbewerb und Konflikten zu rechnen ist.

Von Gross-Europa zu Gross-Eurasien
Zu den acht Arktis-Anrainerstaaten gehören Russland, das etwa die Hälfte der arktischen Küste besitzt, sowie sieben Nato-Staaten, die nach dem Kalten Krieg das Ziel verfolgten, ein Europa ohne Russland und damit gegen Russland aufzubauen.
Eine verlässliche Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen in der Arktis beruhte weitgehend auf der Überbrückung konkurrierender Konzepte für ein Europa nach dem Kalten Krieg. Eine für beide Seiten akzeptable Regelung nach dem Kalten Krieg wurde nie erreicht, was zu zwei konkurrierenden Visionen für ein neues Europa führte. Während Russland sich ein integratives Europa vorstellte, das auf Gorbatschows Konzept eines gemeinsamen europäischen Hauses basierte, das die Trennlinien auf dem Kontinent beseitigen würde, beschloss der Westen, die Trennlinien nach Osten zu verschieben, indem er die Nato und die EU erweiterte, um schliesslich alle Staaten ausser Russland einzubeziehen.
Präsident Bill Clinton warnte im Januar 1994, dass die Nato-Erweiterung «eine neue Trennlinie zwischen Ost und West ziehen könnte, die eine sich selbst erfüllende Prophezeiung einer zukünftigen Konfrontation schaffen könnte». Clinton befürwortete schliesslich die Nato-Erweiterung, was bedeutete, dass er die wichtigsten Grundsätze der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 und die Prinzipien der OSZE von 1994 aufgab, die beide «unteilbare Sicherheit» in einem Europa ohne Trennlinien forderten. Clintons Verteidigungsminister William Perry erklärte, dass andere Mitglieder der Regierung wussten, dass die Nato-Erweiterung den Frieden mit Russland zunichte machen würde, obwohl die Stimmung in der Clinton-Regierung war, dass Russland schwach sei: «Die Antwort, die ich bekam, war wirklich: ‹Wen kümmert es, was sie denken? Sie sind eine Macht dritter Klasse›.»1
Russland verfolgte seine Ambitionen für eine integrative europäische Sicherheitsarchitektur bis Februar 2014 weiter, als der vom Westen unterstützte Putsch in der Ukraine das Ende seiner «Greater Europe Initiative» einläutete. In einem noch grösseren Zusammenhang endete Russlands 300 Jahre währende, westlich orientierte Aussenpolitik seit Peter dem Grossen, als Moskau stattdessen begann, sich nach Partnern im Osten umzusehen. Gleichzeitig begann China, die globale Hegemonie der USA herauszufordern, indem es nach technologischer und industrieller Führung strebte, die Arterien des internationalen Handels mit der Belt-and-Road-Initiative neu ausrichtete und neue Finanzinstrumente der Macht etablierte.
Die Folgen für die arktische Zusammenarbeit sind immens. Während Russland die arktische Zusammenarbeit zuvor als Teil der Greater Europe Initiative betrachtete, ist sie nun in die Greater Eurasian Partnership integriert. Russlands riesige Energieressourcen in der Arktis sind nicht länger eine Quelle der wirtschaftlichen Vernetzung und Integration mit Europa, sondern werden stattdessen China und andere Industrieriesen im Osten befeuern.
Ebenso wird die Nordostpassage ein wichtiger Bestandteil der physischen wirtschaftlichen Konnektivität in der Grosseurasischen Partnerschaft sein, um die Kontrolle der US-Marine über die internationalen Seetransportkorridore zu brechen. China bezeichnet dies als die Polare Seidenstrasse und bezieht sie damit konzeptionell in die Belt-and-Road-Initiative ein, während auch Indien die Arktis als Erweiterung des Korridors Chennai-Wladiwostok ins Auge gefasst hat. Diese grosse wirtschaftliche Neuordnung wird zunehmend mit nicht-westlichen Technologien, Schiffen, Versicherungen, Investmentbanken und Währungen organisiert. Da die wirtschaftliche Infrastruktur entamerikanisiert und umgestaltet wird, ist es vernünftig, mit einer Änderung des institutionellen Rahmens zu rechnen. Dies wird auch in der Arktis der Fall sein.
Zusammenbruch der arktischen Zusammenarbeit unter westlich-zentrierten Institutionen
Unter einem Kräftegleichgewicht bedeutet Zusammenarbeit in der Regel, dass Interessen zwischen souveränen Gleichen durch gegenseitige Kompromisse harmonisiert werden. Während des verzerrten Kräfteverhältnisses der unipolaren Ära änderte sich die Zusammenarbeit grundlegend, da von Russland erwartet wurde, einseitige Zugeständnisse zu akzeptieren. In einem neu geteilten Europa förderte der Westen ein System der souveränen Ungleichheit und übernahm die Rolle eines politischen Subjekts und eines Lehrers mit einer zivilisatorischen Mission, während Russland weitgehend zu einem politischen Objekt und einem zivilisatorischen Schüler degradiert wurde.

von Senator Joseph Biden
am 20. Juni 1997
In pädagogischer Sprache bedeutete Zusammenarbeit, dass der Westen Russland sozialisieren würde, indem er «schlechtes Benehmen» bestrafte und «gutes Benehmen» belohnte. Diese Subjekt-Objekt- oder Lehrer-Schüler-Beziehung basierte auf der Prämisse, dass Russland in der unipolaren Weltordnung keine anderen Partner hatte. Russland hatte die Wahl, sich entweder anzupassen und sich der Nato-Dominanz zu unterwerfen oder isoliert zu werden.
Dieser Ansatz veränderte auch die Zusammenarbeit in der Arktis, da sich die Nato im hohen Norden zunehmend durchsetzt. Mike Pompeo, der damalige US-Aussenminister, stellte in einer flammenden Rede vor dem Arktischen Rat im Jahr 2019 Russlands Anspruch auf die Energieressourcen in der russischen Arktis und das ausschliessliche Recht über die Nordostpassage in Frage. Die USA erkennen die arktischen Meere nicht als Binnengewässer an, und das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS), das es Staaten erlaubt, Exklusivrechte geltend zu machen, wurde nie ratifiziert. Pompeos Rede stiess auf viel Kritik, da der Arktische Rat zuvor keine Plattform für aggressive Rhetorik aus dem Kalten Krieg gewesen war.

von US-Aussenminister Mike
Pompeo, 2019 im Arktischen Rat
Andere Nato-Mitglieder passen sich den US-amerikanischen Vorstellungen von grösseren Konfrontationen in der Arktis an, die nur zunehmen, da die Europäer ihren Wert für die USA unter Beweis stellen müssen, während Washington versucht, sich nach Asien zu orientieren. Schweden und Finnland sind der Nato beigetreten, und US-Militärstützpunkte breiten sich in ganz Skandinavien aus. Eine zunehmend militarisierte skandinavische Region wird eine neue Nato-Frontlinie sein und sich somit zwangsläufig auf die arktische Zusammenarbeit auswirken.
Die Entscheidung, die Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat auszusetzen, um das «schlechte Verhalten» des Landes zu bestrafen, hat die für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit zur Geisel der Geopolitik gemacht. Die Abneigung, in Bereichen, die für beide Seiten von Vorteil sind und nichts mit Geopolitik zu tun haben, wie z. B. Umweltschutz, zusammenzuarbeiten, zeigt, dass die derzeitigen Institutionen möglicherweise nicht mehr zuverlässig sind.
Institutionen der eurasischen Arktis
Die grösste Herausforderung für Russland besteht darin, die Zusammenarbeit mit nicht-arktischen Staaten zu erleichtern und den Westen unter Druck zu setzen, zum Prinzip zurückzukehren, die Arktis zu einer Region der positiven Zusammenarbeit zu machen. Durch die Entwicklung arktischer Kompetenzen für Institutionen wie BRICS könnten beide oben genannten Ziele erreicht werden.

Um ein günstiges Abhängigkeitsverhältnis in der Arktis zu gewährleisten, hat Russland verschiedene Partner in Gross-Eurasien eingeladen, sich an der Entwicklung der Arktis zu beteiligen. Das Vakuum, das der Westen durch seine Abkehr von der Zusammenarbeit in der Arktis hinterlassen hat, wird möglicherweise von Unternehmen aus China, Indien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, den ASEAN-Staaten und anderen gefüllt. Die westlichen Partner zu ersetzen, ist aufgrund der geografischen Gegebenheiten und der Investitionsbedingungen keine leichte Aufgabe. Als blockfreie Staaten ist ihre Einbeziehung in die Arktis eine grosse Chance, das Nullsummenspiel zu reduzieren, das die Blockpolitik der europäischen Sicherheit definiert. In einem multipolaren System wird die Entscheidung, Konflikte in die Arktis zu tragen, bestraft, da zuverlässigere Partner das Geschäft übernehmen.
Eine multipolare eurasische Arktis schafft somit Mechanismen, die Geopolitik bestrafen, da diejenigen, die Wirtschaftssanktionen verhängen oder politische Störungen verursachen, ihre Rolle in der Region schwächen werden. Der Westen und Russland befinden sich auf absehbare Zeit in einer militärischen Konfrontation, obwohl der Westen einen hohen Preis zahlen wird, wenn er diese geopolitischen Streitigkeiten weiterhin in die Arktis trägt.
* Glenn Diesen (geboren 1979) ist ein norwegischer Politologe und ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Südost-Norwegen. In seiner Dissertation befasste er sich mit zwischenstaatlichen Institutionen, die der Gewährleistung kollektiver Sicherheit dienen, und sicherheitspolitischen Problemen, speziell mit den Beziehungen der EU und der Nato zu Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Seine neueste Publikation ist «The Ukraine War & the Eurasian World Order», erschienen 2024 bei Clarity Press. |
Quelle https://glenndiesen.substack.com/p/cooperation-and-conflict-in-the-arctic, 17. März 2025
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 Borger, J., 2016. Russian hostility “partly caused by west”, claims former US defence head, The Guardian, 9 March 2016.