Zum Krieg in der Ukraine

Stefan Hofer. (Bild zvg)

von Stefan Hofer,* Schweiz

(16. Januar 2023) Der Krieg in der Ukraine ist wie jeder Krieg schrecklich und sollte möglichst bald beendet werden. Man kann aber diesen Krieg und die politische Verantwortung dafür nicht beurteilen, ohne auch dessen Vorgeschichte zu kennen und in Betracht zu ziehen. (Verfasst Ende Dezember 2022)

Wie ist es zu diesem Krieg gekommen?

Bis 1991 gehörte die Ukraine als Sowjetrepublik zur Sowjetunion. Erst nach Auflösung der Sowjetunion ist aus der Sowjetrepublik Ukraine ein selbständiger Staat geworden. Vor der russischen Revolution von 1917 hat es nie einen ukrainischen Staat gegeben. Ein grosser Teil der heutigen Ukraine gehörte zum zaristischen Russland, die im Westen gelegenen Gebiete zur habsburgischen Donaumonarchie. In den östlichen und südlichen Bezirken und auf der Krim, die erst nach dem 2. Weltkrieg der ukrainischen Sowjetrepublik zugeteilt worden ist, lebten und leben bis heute mehrheitlich Menschen mit russischer Muttersprache.

Nach der Auflösung der Sowjetunion hat sich die russlandfeindliche Nato immer weiter nach Osten bis an die Grenze Russlands ausgedehnt, obwohl 1990 Gorbatschow versichert worden ist, die Nato werde sich nach Auflösung des Warschauer Paktes und nach dem Rückzug der sowjetischen Armee aus Deutschland und aus den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas nicht weiter nach Osten ausdehnen. Nachdem Polen, die ehemaligen Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien in die Nato eingegliedert worden waren, fehlten nur noch die Ukraine, Weissrussland und Georgien, um die Einkreisung der westlichen Gebiete Russlands durch die Nato zu vollenden.

Da Russland unter Putin nicht bereit war, sich als untergeordneter Verbündeter in das von den USA dominierte westliche Staatensystem einzuordnen, wird seitens des US-geführten Westens versucht, Russland als undemokratische autoritäre Macht zu ächten, zu schwächen und zu destabilisieren. Dazu gehört auch die Einschüchterung und Bedrohung durch militärische Einkreisung. Bei diesen Bemühungen hat die Ukraine, deren östliche Bezirke bis auf wenige 100 Kilometer an die russische Hauptstadt Moskau heranreichen, eine entscheidende Bedeutung. Es mussten somit alle Register gezogen werden, um die Ukraine auf einen prowestlich-antirussischen Kurs zu bringen.

Nachdem der gewählte Präsident der Ukraine Janukowitsch es abgelehnt hatte, ein von der EU vorgelegtes Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, weil damit eine Abwendung von Russland und eine Übernahme der russlandfeindlichen Politik der EU verbunden gewesen wäre, ist der gewählte Präsident Janukowitsch durch einen vom Westen organisierten, orchestrierten und finanzierten Putsch gestürzt worden und eine prowestliche russlandfeindliche Gruppe an die Macht gebracht worden.

Diese Ereignisse hatten zur Folge, dass die fast ausschliesslich von Russen bewohnte Krim sich von der Ukraine abspaltete und per Volksentscheid der Russischen Föderation beigetreten ist. Nach dem Maidan-Putsch ist die von der Mehrheit der Bevölkerung der östlichen und südlichen Bezirke des ukrainischen Staates als Muttersprache gesprochene russische Sprache als Regionalsprache verboten worden und sind auch die russischen Schulen verboten worden. Im Rahmen einer militant antirussischen Politik wurden Gesetze erlassen, die das Ziel hatten, die russische Sprache, die Muttersprache von über 50% der Bevölkerung der Ukraine, aus der Ukraine zu verdrängen.

In den mehrheitlich von Russen bevölkerten Donbass-Bezirken wurden von Kiew russlandfeindliche Gouverneure eingesetzt.

All das hatte zur Folge, dass in den Bezirken Lugansk und Donezk die mehrheitlich russische Bevölkerung revoltierte und die von Kiew unabhängigen Volksrepubliken Lugansk und Donezk ausgerufen und gegründet wurden.

In der Folge versuchte die ukrainische Armee militärisch die Kontrolle der Kiewer Zentrale über die abtrünnigen Gebiete im Donbass wiederherzustellen. Es fanden Kämpfe statt mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Mit Vermittlung der OSZE hat man sich dann darum bemüht, den Konflikt mit dem Donbass beizulegen unter Berücksichtigung und Wahrung auch der legitimen Interessen der grossmehrheitlich russischen Bevölkerung dieser Region.

Diese Bemühungen führten zu den sogenannten Minsker Abkommen, die von der OSZE, der Ukraine und von Russland sowie von den Vertretern der Volksrepubliken Lugansk und Donezk unterzeichnet worden sind und denen in einer separaten Erklärung von Minsk nebst Russland auch Frankreich (Präsident Hollande) und Deutschland (Kanzlerin Merkel) zugestimmt haben.1

Inhalt dieser Minsker Abkommen war die Einstellung der Kampfhandlungen und der Rückzug schwerer Waffen sowie die Schaffung eines in der ukrainischen Verfassung verankerten Autonomie-Statuts für die Bezirke Lugansk und Donezk, das diesen Bezirken im Rahmen des ukrainischen Staates ermöglichen sollte, ihre Behörden selbst zu wählen und das Zusammenleben der Menschen in diesen Bezirken einschliesslich der russischen Sprache und Kultur selbständig zu regeln und zu organisieren.

Das Abkommen Minsk 2 ist jedoch von der ukrainischen Seite nicht umgesetzt worden. Die Beschiessung des Donbass wurde fortgesetzt, wofür die faschistischen Asow-Brigaden eingesetzt worden sind. Bis zum Beginn des russischen Angriffs im Februar 2022 sind über 14 000 Bürger der Volksrepubliken in Lugansk und Donezk, grösstenteils Zivilisten, durch die illegalen gegen das Minsker Abkommen verstossenden Angriffe getötet worden.

Die Verfassungsreform, mit welcher das für den Donbass vereinbarte Autonomie-Statut hätte realisiert werden müssen, hat nicht stattgefunden. Frankreich und Deutschland, die an der Aushandlung des Minsker-Abkommens beteiligt waren, diesem Abkommen mit der Erklärung von Minsk ausdrücklich zugestimmt haben und sich zur Unterstützung bei der Umsetzung verpflichtet haben, haben Kiew nie dazu angehalten, das Minsker-Abkommen einzuhalten und die vereinbarten Verfassungsänderungen vorzunehmen, und schon gar nicht Druck ausgeübt in dieser Richtung.

Kürzlich hat die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel in einem Interview freimütig eingestanden, dass seitens der Ukraine und der westlichen Signatar-Staaten das Minsker-Abkommen nur unterschrieben worden ist, um Zeit zu gewinnen für eine Aufrüstung der ukrainischen Armee. Dazu kommt, dass in der ukrainischen Verfassung als politisches Ziel der Beitritt zur Nato festgelegt worden ist.

In diesem Zusammenhang ist auch auf vom deutschen Konfliktforscher Leo Ensel zutreffend relevierte Fakten hinzuweisen:

«Vollkommen unbekannt ist schliesslich die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky am 24. März 2021 – also genau elf Monate vor dem russischen Überfall – das Dekret Nr. 117 unterzeichnete, das die «Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol» des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März in Kraft setzte. Das Dekret sah vor, Massnahmen vorzubereiten, um «die vorübergehende Besetzung» der Krim und des Donbass zu beenden. Die ukrainische Regierung erhielt den Auftrag, einen entsprechenden «Aktionsplan» zu entwickeln. Am 30. August 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine dann einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit und am 10. November 2021 einen Vertrag über «Strategische Partnerschaft». Hier hiess es u.a. wörtlich: «Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Massnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.» Russland konnte das so verstehen, Kiew wolle mit Unterstützung der USA die annektierte und russlandfreundliche Krim mit dem strategisch wichtigen Militärhafen Sewastopol sowie den von Russland unterstützten Donbass militärisch zurückerobern.»

Die Entwicklung seit der Unterzeichnung der Minsker-Abkommen hat dazu geführt, dass Russland sich gezwungen sah, für die eigene Sicherheit und für die Sicherheit und die Rechte der mehrheitlich russischen Bevölkerung im Donbass an die Regierung in Kiew ultimativ die folgenden Forderungen zu stellen:

  • Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt;
  • keine Stützpunkte der Nato oder anderer fremder Armeen auf dem Territorium der Ukraine;
  • keine Stationierung von Nato-Waffen auf dem Territorium der Ukraine;
  • Entnazifizierung der Ukraine (Entwaffnung der faschistischen Asow-Brigaden);
  • Wahrung der Rechte der russischen Bevölkerung im Donbass durch unverzügliche vollständige Umsetzung der Vereinbarungen im Minsker-Abkommen.

Diese berechtigten Forderungen hat die Kiewer Regierung unterstützt von den USA, der EU und der Nato abgelehnt. Mit Annahme dieser berechtigten Forderungen wäre es nicht zum Krieg gekommen.

Die Meinungen dazu, ob es legitim war, diese Forderungen mit militärischer Gewalt durchzusetzen, die Tod und Verwüstung bringt und Leid und Hass erzeugt, sind geteilt. Ebenso gehen die Meinungen auseinander, ob damit das Völkerrecht ohne Rechtfertigungsgrund verletzt worden ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) mit Bezug auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien mit massivem Einsatz von militärischer Gewalt (Bombardierung serbischer Städte) mit einem Rechtsgutachten zum Schluss gekommen ist, das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung des Kosovos sei höher zu gewichten als die territoriale Unversehrtheit und die Respektierung der Grenzen Serbiens.

Der derzeit tobende Krieg in der Ukraine kann und muss gesehen und beurteilt werden im Zusammenhang mit der globalen Auseinandersetzung zwischen dem von den USA dominierten Westen und den Kräften, die eine neue multipolare Weltordnung anstreben, was die massive Intervention der USA, der Nato und der EU (Waffenlieferungen, Ausbildung und Anleitung von Angehörigen der ukrainischen Armee, Entsendung von Söldnern und Gefechtsfeldaufklärung) erklärt.

In dieser Auseinandersetzung versucht der Westen, teils mit Erfolg, teils erfolglos, zur Verteidigung der US-dominierten Weltordnung auch mit militärischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Völkerrecht in zahlreichen Staaten Regime-Changes herbeizuführen (Serbien, Irak, Syrien, Libyen u. a.). Niemand hat deswegen gegen die USA und die beteiligten Nato-Staaten Sanktionen verhängt.

Der Krieg in der Ukraine kann und muss durch Verhandlungen beendet werden. Im März 2022 sind in Istanbul Verhandlungen geführt worden, die ein unterschriftsreifes Abkommen ergeben haben, worauf der britische Premierminister Boris Johnson nach Absprache mit Präsident Biden eiligst nach Kiew reiste, um die Unterzeichnung des Abkommens, mit dem der Krieg beendet worden wäre, zu verhindern.

Der von der Zelensky-Regierung seither eingenommene Standpunkt, dass über eine Beendigung des Krieges erst verhandelt werden kann, wenn der letzte russische Soldat aus dem Staatsgebiet der Ukraine (einschliesslich der Krim) verjagt sein wird oder abgezogen sein wird, ist für Russland nach der Erfahrung mit den Minsker-Abkommen nicht akzeptabel und in Anbetracht der militärischen Kräfteverhältnisse auch nicht realistisch.

Mit weiteren Waffenlieferungen an die ukrainische Armee wird es nicht gelingen, die russische Armee aus den derzeit von ihr kontrollierten Gebieten zu vertreiben. Weitere Waffenlieferungen verbunden mit der Weigerung, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges aufzunehmen, führen nur zu einer Verlängerung des Krieges, zu noch mehr Toten und Verwundeten, zu noch mehr Verwüstung und zu weiteren Belastungen der Bevölkerung in Westeuropa und in den USA, die diese Waffen bezahlen muss.

Ein durch Verhandlungen zu erreichender Frieden wäre etwa so vorstellbar:

  1. Sofortiger Waffenstillstand, beidseitiger Rückzug der schweren Waffen von der Frontlinie.
  2. In der ukrainischen Verfassung wird immerwährende Neutralität der Ukraine, das Verbot, der Nato beizutreten und ausländische Armeen und Waffensysteme in der Ukraine zu stationieren, festgeschrieben.
  3. Die Ukraine, die USA und die EU anerkennen, dass die Krim zur russischen Föderation gehört.
  4. In den Bezirken Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson wird unter internationaler Aufsicht eine Abstimmung darüber durchgeführt, ob diese Bezirke der Russischen Föderation beitreten oder bei der Ukraine bleiben wollen, wobei alle Personen, die vor dem Krieg in diesen Bezirken wohnhaft waren, stimmberechtigt sind. Für den Beitritt zur Russischen Föderation kann ein qualifiziertes Mehr von mindestens 55% vorgeschrieben werden. Die Ukraine und Russland verpflichten sich, das Ergebnis dieser Abstimmungen anzuerkennen.
  5. Die Ukraine und Russland anerkennen gegenseitig die Staatsgrenzen, die sich aus diesen Abstimmungen ergeben, und erklären gegenseitigen Gewaltverzicht.
  6. Die Ukraine und Russland erklären die Absicht der beiden Staaten, in guter Nachbarschaft miteinander zu leben.

Die von der EU verhängten und von der Schweiz neutralitätswidrig übernommenen Sanktionen gegen Russland, die unserer Bevölkerung mindestens so viel schaden wie der Bevölkerung Russlands, sollten aufgehoben werden. Diese Sanktionen schaden der Wirtschaft unseres Landes und tragen nichts bei zu einer möglichst baldigen Beendigung des Krieges.

* Stefan Hofer, geboren im Jahr 1948, ist Schweizer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Basel. Er hat in Basel während 40 Jahren als Rechtsanwalt gearbeitet. Seit einigen Jahren ist er im Ruhestand.

1 https://www.dailymotion.com/video/x2h0jx0

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