Was heisst es, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen?

Oskar Lafontaine. (Bild
www.oskar-lafontaine.de)

Wer eine Atommacht in die Enge treibt, handelt verantwortungslos. Das wusste schon US-Präsident John F. Kennedy.

von Oskar Lafontaine,* Deutschland

(23. Dezember 2022) In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag sagte Bundeskanzler Olaf Scholz: « In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen. Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite, auf der richtigen Seite der Geschichte.»

Wer also auf der Seite der Ukrainer steht, steht auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber wer steht für die Ukraine, und was wollen die Ukrainer? Mit Sicherheit will die grosse Mehrheit, dass das Morden und die Zerstörung ihrer Heimat sofort durch einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen beendet werden.

Wenn Journalisten und Politiker etwas anderes behaupten und beispielsweise davon reden, dass die Ukrainer für Freiheit und Demokratie gerne ihr Leben opfern, dann ist das nichts anderes als die plumpe Kriegspropaganda derjenigen, die ihr Leben nicht riskieren und vom Schreibtisch aus andere auf die Schlachtfelder schicken.

Überflüssig zu erwähnen, dass auch die russischen Soldaten nichts anderes sehnlicher wünschen als einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Warum ist es für die Kriegstreiber in aller Welt immer so schwer, sich vorzustellen, wie es den Familien geht, deren Väter und Söhne auf den Schlachtfeldern sterben müssen?

ISBN 978-3-86489-406-0

Ukrainer wollen Friedensverhandlungen

Auf jeden Fall steht man nicht auf der richtigen Seite der Geschichte, wenn man die Politik Selenskyjs und seiner Entourage unterstützt. Sie wollen die ukrainischen Soldaten kämpfen lassen, bis alle von den Russen besetzten ukrainischen Gebiete befreit sind, auch die Krim. Jeder, der politisch bis drei zählen kann, weiss, dass dies völlig unerreichbare Ziele sind.

Überhaupt hat Selenskyj für viele seine Glaubwürdigkeit längst verspielt, weil er immer wieder den dritten Weltkrieg fordert. Mal forderte er eine Flugverbotszone, mal will er Präventivschläge gegen Moskau. Mal fordert er Atomwaffen für die Ukraine, und dann behauptet er wahrheitswidrig, die ukrainische Abwehrrakete, die zwei Polen getötet hat, sei von Russland abgefeuert worden, und dann fordert er, dass die Nato das von den Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja vor Sabotage schützen müsse. Selbst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde es zu bunt: «Selenskyj will die Nato in den Krieg ziehen», schrieb sie.

Mit seiner ständigen Forderung nach Ausweitung des Krieges, nach einer Rückeroberung des Donbass und der Krim beweist Selenskyj nur eines: Er vertritt die ukrainische Bevölkerung schon lange nicht mehr. Nach neun Monaten Krieg will sie einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung, ungeachtet aller Behauptungen in der Propagandapresse. Umso verantwortungsloser ist es, wenn europäische Politiker, allen voran die Kriegstreiber aus Deutschland, die Ukraine in dem Ziel bestärken, Russland zu besiegen.

Die Ukraine muss gewinnen, heisst es oft. Dass man eine Atommacht nicht besiegen kann, müsste sich auch bei denen herumgesprochen haben, die sich, wie die führenden Politiker der deutschen Regierung, in ihrem Leben wenig mit Aussenpolitik beschäftigt haben. Nach wie vor gilt, was einst der legendäre US-Präsident John F. Kennedy sagte: Man darf eine Atommacht nie in eine Situation bringen, aus der sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr herausfindet. Wer eine Atommacht in die Enge treiben will, wer also einen Nuklearkrieg riskiert, steht mit Sicherheit nicht auf der richtigen Seite der Geschichte.

Für den Krieg trommeln immer nur diejenigen, die ihr Leben selbst nicht aufs Spiel setzen müssen. In seinem berühmten Lied «Le déserteur» schrieb der französische Chansonnier Boris Vian: «S’il faut donner son sang, allez donner le vôtre, vous êtes bon apôtre, Monsieur le Président.» Leobald Loewe hat das ins Deutsche übertragen: «Ihr schwört im Parlament, man müsse Blut vergiessen, so lasset Eures fliessen, verehrter Präsident.»

Man kann sicher sein, dass viele Ukrainer und Russen, wenn sie an ihre Präsidenten und die Kriegspropagandisten denken, ähnliche Empfindungen haben. Das ist die uralte Leier. Schon der römische Dichter Horaz schrieb: «Dulce et decorum est pro patria mori» – süss und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.

Mit dieser verlogenen Moral derjenigen, die andere in den Krieg schicken, starben über Jahrtausende unschuldige Menschen auf den Schlachtfeldern. Es ist Zeit für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, weil jeden Tag Ukrainer und Russen dieser «Vaterlandsliebe» zum Opfer fallen. Spätestens hier muss die Frage beantwortet werden, auf welche moralischen Grundsätze man sich berufen kann, wenn man auf der richtigen Seite der Geschichte stehen will.

Ich habe mich bei der Beantwortung dieser Frage immer auf den grossen Humanisten Albert Schweitzer bezogen, der dafür warb, die Ehrfurcht vor dem Leben zur Grundlage menschlichen Handelns zu machen. «Die Ehrfurcht vor dem Leben, zu der wir Menschen gelangen müssen, begreift alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude, Mitstreben in Betracht kommen kann.» Liebe zum und Mitleid mit dem Mitmenschen sind Voraussetzungen einer friedlichen Welt.

Grüne plötzlich für Waffenlieferungen

Auf das Leben aber berufen sich auch Politiker, die wie Annalena Baerbock in Deutschland für immer grössere Waffenlieferungen in die Ukraine werben. «Unsere Waffen retten Leben.» Das ist eine abenteuerliche Entwicklung! Die aus der Friedensbewegung hervorgegangene Partei der Grünen wirbt jetzt mit der Parole der US-Waffenlobby «Guns Save Lives» für eine Aussenpolitik, die dazu führt, dass der Krieg in der Ukraine sich immer länger hinzieht und noch viele Tausend Menschen ihr Leben verlieren und die Ukraine immer weiter zerstört wird.

Das Hauptproblem, warum der Westen nicht auf der richtigen Seite der Geschichte stehen kann, besteht darin, dass er in nie gekanntem Umfang einer Doppelmoral huldigt. Der ukrainische Präsident Selenskyj beispielsweise hat vor einigen Tagen die Angriffe Russlands auf die Infrastruktur seines Landes mit weitreichenden Stromausfällen als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» bezeichnet und die Uno zu einer entschiedenen Reaktion aufgerufen. Vom Uno-Sicherheitsrat forderte er, Russland müsse deutlich als terroristischer Staat bezeichnet werden. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die russischen Angriffe auf die ukrainische Strom- und Wasserversorgung als Kriegsverbrechen bezeichnet, die Konsequenzen haben müssten. «Jeder Schlag gegen zivile Infrastruktur stellt ein Kriegsverbrechen dar und darf nicht ungestraft bleiben.» Und das Europaparlament stufte Russland als Terrorstaat ein.

Wer sein Gedächtnis noch nicht ganz an der Garderobe abgegeben hat, erinnert sich an die Nato-Bombardements auf Serbien. Dazu las man 1999 im Tagesspiegel: «Nato-Angriffe lähmen die Versorgung Serbiens mit Strom und Wasser. Nach der landesweiten Lahmlegung der Strom- und Wasserversorgung in Serbien hat die Nato dem Belgrader Regime mit weiteren Angriffen auf zentrale Energieanlagen gedroht. Nato-Sprecher Jamie Shea sagte am Montag in Brüssel, die Nato habe ihre Fähigkeit bewiesen, das serbische Versorgungssystem abschalten zu können, wann immer sie wolle.»

Das Europaparlament stufte die Nato-Staaten damals nicht als Terrorstaaten ein, und niemand forderte, die dafür verantwortlichen Kriegsverbrecher der USA, Deutschlands, Frankreichs und der anderen Nato-Staaten zu bestrafen.

Den Höhepunkt dieser doppelten Moral erlebten wir am 30. November. Die Europäische Kommission hatte Pläne für die Errichtung eines von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichts vorgestellt, das potenzielle Kriegsverbrechen, die von Russland in der Ukraine begangen wurden, untersuchen und verfolgen sollte.

«Russlands Invasion in der Ukraine hat Tod, Verwüstung und unsägliches Leid gebracht», sagte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in einer Erklärung. «Russland muss für seine schrecklichen Verbrechen bezahlen, auch für seine Verbrechen der Aggression gegen einen souveränen Staat.» Dass auch ukrainische Soldaten Kriegsverbrechen begehen, kann sich die Europäische Kommission mit ihrer deutschen Präsidentin offenbar nicht vorstellen.

Westliche Elite auf der Anklagebank

Man muss das Wort «Russland» nur durch «USA» ersetzen und die Ukraine durch Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Jugoslawien und so weiter, um sofort zu erkennen, mit welch unglaublicher Unverschämtheit und Verlogenheit die EU-Präsidentin ihre doppelte Moral zelebriert.

Um das Mass vollzumachen, beschloss der Deutsche Bundestag vor einigen Tagen, den Paragrafen 130 des Strafgesetzbuchs gegen Volksverhetzung zu verschärfen. Jetzt soll auch derjenige verfolgt werden können, der «Kriegsverbrechen billigt, leugnet oder gröblichst verharmlost».

Die obenerwähnten Beispiele erfüllen den Tatbestand der Leugnung beziehungsweise gröblichen Verharmlosung westlicher Kriegsverbrechen. Mit dem neuen Gesetz setzt der Deutsche Bundestag die politische Elite des Westens auf die Anklagebank. Würde es wirklich angewendet, stünde sie zwar nicht auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber sie sässe auf der richtigen Bank.

Quelle: https://weltwoche.ch/story/was-heisst-es-auf-der-richtigen-seite-der-geschichte-zu-stehen, 8. Dezember 2022
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der «Weltwoche»-Redaktion.

Zurück