Presseerklärung

Sechs Monate Krieg haben das Al-Shifa-Krankenhaus in Trümmern hinterlassen

(6. April 2024 | Presseerklärung | Jerusalem/Kairo/Genf) – Eine von der WHO geleitete organisationsübergreifende Mission hat am 5. April das Al-Shifa-Krankenhaus im nördlichen Gazastreifen betreten, um eine vorläufige Bewertung des Ausmasses der Zerstörung vorzunehmen und den Bedarf zu ermitteln, der für künftige Bemühungen um den Wiederaufbau der Einrichtung notwendig ist.

Die hochkomplexe Mission wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), dem Minenräumdienst der Vereinten Nationen (UNMAS) und der Abteilung für Sicherheit der Vereinten Nationen (UNDSS) sowie in Zusammenarbeit mit dem amtierenden Krankenhausdirektor durchgeführt.

Das zerstörte Al-Shifa Krankenhaus, Nord-Gaza, 5. April 2024.
(Bild © WHO)

Vor der Mission wurden die Bemühungen der WHO, das Krankenhaus zu erreichen, um Patienten und Personal medizinisch zu evakuieren und eine Bewertung vorzunehmen, zwischen dem 25. März und dem 1. April sechsmal verweigert, verzögert oder behindert.

Wie der Grossteil des Nordens ist auch das Al-Shifa-Krankenhaus – einst das grösste und wichtigste Referenzkrankenhaus im Gazastreifen – nach der jüngsten Belagerung nur noch eine leere Hülle. In der Einrichtung befinden sich keine Patienten mehr. Die meisten Gebäude sind stark beschädigt oder zerstört, und der Grossteil der Ausrüstung ist unbrauchbar oder zu Asche geworden.

Nach Angaben des WHO-Teams ist die Einrichtung aufgrund des Ausmasses der Zerstörung völlig funktionsunfähig, was den Zugang zur lebensrettenden Gesundheitsversorgung im Gazastreifen weiter einschränkt. Die kurzfristige Wiederherstellung auch nur einer minimalen Funktionalität scheint unwahrscheinlich und erfordert erhebliche Anstrengungen, um das Gelände von nicht explodierten Sprengkörpern zu säubern und die Sicherheit und Zugänglichkeit für die Partner zu gewährleisten, die Geräte und Hilfsgüter anliefern.

Die Gebäude der Notaufnahme, der chirurgischen Abteilung und der Entbindungsstation des Krankenhauses sind durch Sprengstoff und Feuer stark beschädigt. Die westliche Wand der Notaufnahme und die nördliche Wand der Neugeborenen-Intensivstation (NICU) wurden abgerissen. Mindestens 115 Betten in der ehemaligen Notaufnahme sind verbrannt und 14 Inkubatoren in der Neugeborenen-Intensivstation wurden zerstört, neben anderen Gegenständen. Ein Team von Ingenieuren muss eine eingehende Bewertung vornehmen, um festzustellen, ob diese Gebäude für eine künftige Nutzung sicher sind.

Die Sauerstoffanlage des Krankenhauses wurde zerstört, so dass das Kamal Adwan-Hospital die einzige Quelle für die Produktion von medizinischem Sauerstoff im Norden ist. Weitere umfassende Untersuchungen sind notwendig, um die Funktionsfähigkeit lebenswichtiger Geräte wie Computertomographen, Beatmungsgeräte, Sterilisationsgeräte und chirurgische Geräte, einschliesslich chirurgischer Instrumente und Anästhesiegeräte, zu beurteilen. Die derzeitige Situation hat dazu geführt, dass im nördlichen Gazastreifen keine CT-Scanner zur Verfügung stehen und die Laborkapazitäten erheblich eingeschränkt sind, was eine wirksame Diagnose stark beeinträchtigt und zu einer Zunahme vermeidbarer Todesfälle führen wird.

Al-Shifa Krankenhaus, Nord-Gaza, 5. April 2024. (Bild © WHO)

Unmittelbar vor der Notaufnahme sowie den Verwaltungs- und Operationsgebäuden wurden zahlreiche flache Gräber ausgehoben. In demselben Bereich waren viele Leichen teilweise verschüttet, so dass ihre Gliedmassen sichtbar waren. Während des Besuchs sahen die WHO-Mitarbeiter mindestens fünf Leichen, die teilweise bedeckt auf dem Boden lagen und der Hitze ausgesetzt waren. Das Team berichtete von einem stechenden Geruch nach verwesenden Leichen, der das Krankenhausgelände erfüllte. Die Wahrung der Würde, selbst im Tod, ist ein unverzichtbarer Akt der Menschlichkeit.

Nach Angaben des amtierenden Krankenhausdirektors wurden die Patienten während der Belagerung unter miserablen Bedingungen gehalten. Sie mussten unter schwerem Mangel an Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung, Hygiene und sanitären Einrichtungen leiden und wurden mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich zwischen den Gebäuden zu bewegen. Mindestens 20 Patienten sind Berichten zufolge gestorben, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten und sich das medizinische Personal nur eingeschränkt bewegen durfte.

Trotz der Entflechtung kam es bei der gestrigen Mission zu erheblichen Verzögerungen am militärischen Kontrollpunkt auf dem Weg zum Al-Shifa-Krankenhaus. Am selben Tag kam es bei einer anderen von der WHO geleiteten Mission zu den Krankenhäusern Al-Awda und Kamal Adwan im nördlichen Gazastreifen, die medizinische Hilfsgüter und Treibstoff liefern, medizinische Notfallteams entsenden und die Überweisung kritischer Patienten unterstützen sollte, zu unnötigen Verzögerungen, einschliesslich der Festnahme eines Fahrers eines Versorgungslastwagens, der Teil des Konvois war. Er wurde über eine Stunde lang an einem anderen Ort festgehalten, ohne dass das Einsatzteam ihn sehen konnte. Schliesslich wurde die Mission aus Sicherheitsgründen abgebrochen, da aufgrund der Verzögerungen nicht genügend Zeit für eine sichere Beendigung und Rückkehr vor Einbruch der Dunkelheit blieb.

Zwischen Mitte Oktober und Ende März wurde über die Hälfte aller WHO-Missionen verweigert, verzögert, behindert oder verschoben. Da der Bedarf im Gesundheitsbereich stark ansteigt, ist das Fehlen eines funktionierenden Konfliktlösungssystems ein Haupthindernis für die Bereitstellung humanitärer Hilfe – einschliesslich medizinischer Hilfsgüter, Treibstoff, Lebensmittel und Wasser für Krankenhäuser – in annähernd dem erforderlichen Umfang.

Sechs Monate – also ein halbes Jahr – nach Beginn des Krieges hat die Zerstörung des Al-Shifa-Krankenhauses und des Nasser Medical Complex dem ohnehin schon angeschlagenen Gesundheitssystem das Rückgrat gebrochen. Vor der jüngsten Belagerung hatten die WHO und ihre Partner die Wiederaufnahme der Grundversorgung im Al-Shifa-Krankenhaus unterstützt, und der Nasser Medical Complex wurde regelmässig beliefert, um weiterhin als Hauptkrankenhaus im Süden des Gazastreifens zu dienen. Diese Bemühungen sind nun zunichte gemacht worden.

Anlässlich des morgigen Weltgesundheitstages der WHO, der unter dem Motto «Meine Gesundheit, mein Recht» steht, ist dieses Grundrecht für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens völlig unerreichbar. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung im Gazastreifen ist völlig unzureichend geworden, und die Möglichkeiten der WHO und ihrer Partner, Hilfe zu leisten, werden ständig unterbrochen und behindert.

Von den 36 grossen Krankenhäusern, die früher über 2 Millionen Menschen im Gazastreifen versorgten, sind nur noch 10 einigermassen funktionsfähig, wobei die Art der Leistungen, die sie erbringen können, stark eingeschränkt ist. Der geplante militärische Einmarsch in Rafah kann nur zu einer weiteren Verschlechterung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung führen und hätte unvorstellbare gesundheitliche Folgen. Der systematische Abbau der Gesundheitsversorgung muss beendet werden.

Die WHO fordert erneut den Schutz von Patienten, medizinischem und humanitärem Personal, der Gesundheitsinfrastruktur und der Zivilbevölkerung. Krankenhäuser dürfen nicht militarisiert, missbraucht oder angegriffen werden. Die WHO fordert einen wirksamen, transparenten und praktikablen Mechanismus zur Entflechtung und Sicherheitsgarantien, die gewährleisten, dass der Transport von Hilfsgütern innerhalb des Gazastreifens, auch über die Kontrollpunkte, sicher, vorhersehbar und zügig erfolgt. Die WHO fordert zusätzliche Landübergänge, um einen sichereren und direkteren Zugang zum und durch den Gazastreifen zu ermöglichen.

Angesichts der drohenden Hungersnot, der Ausbreitung von Krankheiten und der Zunahme traumatischer Verletzungen fordert die WHO einen ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in und durch den Gazastreifen sowie einen dauerhaften Waffenstillstand.

Quelle: https://www.who.int/news/item/06-04-2024-six-months-of-war-leave-al-shifa-hospital-in-ruins--who-mission-reports, 6. April 2024

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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