UNO-Generalversammlung

Rede von König Abdullah II. von Jordanien

Bemerkenswert. Kritisch. Zukunftsweisend.

(18. Oktober 2024) (Red. NachDenkSeiten) Ende September 2024 hat der jordanische König in New York eine Rede zum Konflikt um Palästina gehalten. Er blickte zurück auf ein Vierteljahrhundert der von ihm miterlebten UN-Vollversammlungen: «[…] kann mich nicht an eine Zeit erinnern, die gefährlicher war als diese. […] Unsere Vereinten Nationen stehen vor einer Krise, die ihre Legitimität infrage stellt und das globale Vertrauen und die moralische Autorität zu zerstören droht.»

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König Abdullah II. ibn Al Hussein vom Haschemitischen Königreich
Jordanien spricht in der Generaldebatte der 79. Sitzung der General-
versammlung. (Bild UN-Photo)

Ansprache Seiner Majestät König Abdullah II. auf der 79. Sitzung der General-versammlung der Vereinten Nationen am 24. September 2024

Herr Präsident,
Herr Generalsekretär,
Verehrte Exzellenzen

Im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts habe ich an diesem Rednerpult gestanden, inmitten regionaler Konflikte, globaler Umwälzungen und humanitärer Krisen, die unsere Weltgemeinschaft auf eine harte Probe gestellt haben.

Es scheint, als hätte es keinen Moment gegeben, in dem unsere Welt nicht in Aufruhr war. Und doch kann ich mich nicht an eine Zeit erinnern, die gefährlicher war als diese.

Unsere Vereinten Nationen stehen vor einer Krise, die ihre Legitimität infrage stellt und das globale Vertrauen und die moralische Autorität zu zerstören droht.

Die UNO wird angegriffen – im wörtlichen und im übertragenen Sinne.

Seit fast einem Jahr ist die himmelblaue Flagge, die über UN-Unterkünften und -Schulen in Gaza weht, machtlos, unschuldige Zivilisten vor israelischen Militärbombardierungen zu schützen.

UN-Hilfslastwagen stehen nur wenige Kilometer von hungernden Palästinensern entfernt regungslos da. Humanitäre Helfer, die stolz das Emblem dieser Institution tragen, werden herabgewürdigt und ins Visier genommen. Und die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen werden missachtet, seine Stellungnahmen werden ignoriert.

Es ist also keine Überraschung, dass sowohl innerhalb als auch ausserhalb dieses Saals das Vertrauen in die Grundprinzipien und Ideale der UNO bröckelt.

Die harte Realität, die viele sehen, ist, dass einige Nationen über dem Völkerrecht stehen, dass sich die globale Gerechtigkeit dem Willen der Macht beugt und dass die Menschenrechte selektiv sind; ein Privileg, das nach Belieben gewährt oder verweigert werden kann.

Das können wir nicht hinnehmen und wir müssen erkennen, dass die Untergrabung unserer internationalen Institutionen und globalen Rahmenbedingungen eine der grössten Bedrohungen für unsere globale Sicherheit darstellt.

Fragen Sie sich selbst: Wenn wir nicht als Nationen in der Überzeugung vereint sind, dass alle Menschen die gleichen Rechte, die gleiche Würde und den gleichen Wert haben und dass alle Länder vor dem Gesetz gleich sind, was für eine Welt bleibt uns dann?

Verehrte Exzellenzen,

die Angriffe auf israelische Zivilisten am 7. Oktober letzten Jahres wurden von Ländern auf der ganzen Welt verurteilt, auch von Jordanien, aber das beispiellose Ausmass des Terrors, das seit diesem Tag in Gaza herrscht, ist durch nichts zu rechtfertigen.

Der Angriff der israelischen Regierung hat zu einer der höchsten Sterberaten in den jüngsten Konflikten, einer der höchsten durch Krieg verursachten Hungerraten, der grössten Zahl an amputierten Kindern und einem beispiellosen Ausmass an Zerstörung geführt.

Diese israelische Regierung hat mehr Kinder, mehr Journalisten, mehr Helfer und mehr medizinisches Personal getötet als in jedem anderen Krieg in jüngerer Zeit.

Und vergessen wir nicht die Angriffe im Westjordanland. Dort hat die israelische Regierung seit dem 7. Oktober mehr als 700 Palästinenser getötet, darunter 160 Kinder. In israelischen Haftanstalten befinden sich über 10 700 Palästinenser, darunter 400 Frauen und 730 Kinder – 730 Kinder. Über 4000 Palästinenser wurden aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben. Die Gewalt durch bewaffnete Siedler hat zugenommen. Ganze Dörfer wurden vertrieben.

Und in Jerusalem gehen die eklatanten Verstösse gegen den historischen und rechtlichen Status quo an muslimischen und christlichen heiligen Stätten unvermindert weiter, unter dem Schutz und der Ermutigung von Mitgliedern der israelischen Regierung.

Um es klar zu sagen: Dies geschieht im Westjordanland, nicht im Gazastreifen. Seit dem 7. Oktober wurden fast 42 000 Palästinenser getötet.

Ist es da ein Wunder, dass viele fragen, wie dieser Krieg nicht als absichtlicher Angriff auf die Palästinenser wahrgenommen werden kann?

Das Leid der Zivilbevölkerung kann nicht als unvermeidbare Begleiterscheinung abgetan werden.

Ich bin als Soldat in einer Region aufgewachsen, die mit Konflikten nur allzu vertraut ist. Aber an diesem Krieg und der seit dem 7. Oktober entfesselten Gewalt ist nichts Vertrautes.

In Ermangelung einer globalen Rechenschaftspflicht werden wiederholte Gräueltaten normalisiert und drohen eine Zukunft zu schaffen, in der überall auf der Welt alles erlaubt ist. Ist es das, was wir wollen?

Jetzt ist es an der Zeit, den Schutz des palästinensischen Volkes zu gewährleisten. Es ist die moralische Pflicht dieser internationalen Gemeinschaft, einen Schutzmechanismus für sie in den besetzten Gebieten einzurichten. Dies wird die Sicherheit von Palästinensern und Israelis vor Extremisten gewährleisten, die unsere Region an den Rand eines totalen Krieges bringen.

Das gilt auch für diejenigen, die weiterhin die Idee von Jordanien als alternativer Heimat propagieren. Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Das wird niemals geschehen. Wir werden die Zwangsumsiedlung von Palästinensern, die ein Kriegsverbrechen darstellt, niemals akzeptieren.

Kein Land in der Region profitiert von einer Eskalation. Das haben wir in den letzten Tagen bei den gefährlichen Entwicklungen im Libanon deutlich gesehen. Das muss aufhören.

Seit Jahren streckt die arabische Welt Israel durch die Arabische Friedensinitiative die Hand entgegen und bietet im Austausch für Frieden volle Anerkennung und Normalisierung an. Doch die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen, ermutigt durch jahrelange Straflosigkeit, haben den Frieden abgelehnt und sich stattdessen für die Konfrontation entschieden.

Straflosigkeit gewinnt an Kraft. Wenn sie nicht kontrolliert wird, gewinnt sie an Dynamik.

Die Palästinenser haben mehr als 57 Jahre Besatzung und Unterdrückung ertragen. In dieser Zeit wurde der israelischen Regierung erlaubt, eine rote Linie nach der anderen zu überschreiten.

Doch nun wird die jahrzehntelange Straflosigkeit Israels zu seinem schlimmsten Feind.

Und die Folgen sind überall zu spüren.

Die israelische Regierung wurde vor dem Internationalen Gerichtshof des Völkermords beschuldigt. Überall auf der Welt wird Empörung über ihr Verhalten laut. In Städten überall finden Massenproteste statt, und der Ruf nach Sanktionen wird immer lauter.

Die internationale Frustration über Israel hat schon lange zugenommen, aber sie war noch nie so offensichtlich.

Jahrzehntelang hat sich Israel als blühende Demokratie im Nahen Osten nach westlichem Vorbild dargestellt.

Doch die Brutalität des Krieges gegen Gaza hat die Welt gezwungen, genauer hinzuschauen.

Jetzt sehen viele Israel mit den Augen seiner Opfer. Und der Widerspruch, das Paradoxon, ist zu schockierend.

Das moderne, fortschrittliche Israel, das aus der Feme bewundert wird, und das Israel, das die Palästinenser aus erster Hand erlebt haben, können einfach nicht nebeneinander existieren. Israel wird sich letztendlich entweder für das eine oder das andere entscheiden.

Das ist die Entscheidung, die seine Führung und sein Volk treffen müssen. Nach den demokratischen Weiten der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit für alle zu leben oder eine weitere Isolation und Ablehnung zu riskieren.

Immer wieder haben wir beobachtet, wie Israel versucht hat, Sicherheit durch militärische Mittel zu erreichen. Auf jede Eskalation folgt eine Pause, bis zur nächsten, tödlicheren.

Und seit Jahren geht die Weltgemeinschaft den Weg des geringsten Widerstands – sie akzeptiert den Status quo der anhaltenden militärischen Besatzung der Palästinenser und gibt gleichzeitig Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung ab.

Aber es war noch nie so offensichtlich, dass der derzeitige Status quo unhaltbar ist. Und wie das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vor zwei Monaten unterstrich, ist er eindeutig illegal.

Das Gutachten des Gerichtshofs ist für uns alle ein moralischer Imperativ. Die darin enthaltene Verpflichtung dürfen unsere Nationen nicht ignorieren – um unserer Welt willen und für die Zukunft der Palästinenser und Israelis gleichermassen.

Denn beide Völker verdienen es, ihr Leben in Würde, frei von Gewalt und Angst zu leben.

Und der einzige Weg, dies zu erreichen, ist ein gerechter Frieden, der auf internationalem Recht, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung beruht.

Das ist etwas, worin wir uns als Nationen und Menschen überall vereinen können und müssen.

Verehrte Exzellenzen,

die Welt schaut zu, und die Geschichte wird uns nach dem Mut beurteilen, den wir zeigen.

Und nicht nur die Zukunft wird uns zur Rechenschaft ziehen, sondern auch die Menschen im Hier und Jetzt.

Sie werden beurteilen, ob wir als Vereinte Nationen der Untätigkeit nachgeben oder für die Wahrung der Grundsätze kämpfen werden, die diese Institution und unsere Welt verankern.

Im Moment fragen sie sich, ob wir tatenlos zusehen werden, wie Eltern mit ansehen müssen, wie ihre Kinder dahinsiechen, wie Ärzte mit ansehen müssen, wie ihre Patienten aufgrund fehlender medizinischer Grundversorgung sterben, und wie noch mehr unschuldige Menschen ihr Leben verlieren, weil die Welt nicht handelt.

Dieser Krieg muss enden. Geiseln und Gefangene müssen nach Hause zurückkehren. Aber jeder Tag, den wir warten, ist für viel zu viele Menschen ein Tag zu viel.

Daher rufe ich alle Länder auf; sich Jordanien anzuschliessen und ein internationales «Gaza Humanitarian Gateway» zu errichten – eine massive Hilfsaktion, um Lebensmittel, sauberes Wasser, Medikamente und andere lebenswichtige Güter an die Bedürftigen zu liefern. Denn humanitäre Hilfe sollte niemals ein Werkzeug des Krieges sein.

Unabhängig von unserer politischen Einstellung ist eine Wahrheit unbestreitbar: Kein Volk sollte ein solches beispielloses Leid ertragen müssen, verlassen und allein. Wir dürfen die Zukunft nicht denen überlassen, die von Spaltung und Konflikten profitieren.

Ich fordere alle Nationen mit Gewissen auf, sich in den kommenden kritischen Wochen dieser Mission mit Jordanien zu vereinen.

Fast ein Jahr nach Beginn dieses Krieges hat unsere Welt politisch versagt, aber unsere Menschlichkeit darf die Menschen in Gaza nicht länger im Stich lassen.

Ich wiederhole die Worte meines Vaters von vor 64 Jahren auf der 15. Sitzung der Generalversammlung und bete, dass diese Gemeinschaft von Nationen den Mut haben möge, weise und furchtlos zu entscheiden, und mit der dringenden Entschlossenheit handeln wird, die diese Krise und unser Gewissen erfordern.

Mein Vater war ein Mann, der bis zum Schluss für den Frieden gekämpft hat. Und wie er weigere auch ich mich, meinen Kindern oder Ihren Kindern eine Zukunft zu hinterlassen, die wir aufgegeben haben.

Vielen Dank.

Quelle: https://gadebate.un.org/sites/default/files/gastatements/79/jo_en.pdf

(Übersetzung aus dem Englischen von nachdenkseiten.de., https://www.nachdenkseiten.de/?p=122072, 27.9.2024)

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