Lateinamerika und das Wiederaufleben der «Dritten Welt»

Juan José Paz y Miño Cepeda. (Bild zvg)

Die Völker des Globalen Südens stärken

von Juan José Paz y Miño Cepeda,* Ecuador

(2. Mai 2023) (Red.) Der «Schweizer Standpunkt» begleitet mit grossem Interesse die Bemühungen der Völker des globalen Südens zur Umsetzung der in der UNO-Charta festgehaltenen Ziele: Wahrung des Weltfriedens, internationale Sicherheit sowie wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt aller Völker.

Die Länder des globalen Südens beobachten mit Argusaugen die Reaktionen des Westens auf die gewaltigen Machtverschiebungen und die Umbrüche, die durch die unaufhaltsame Vorwärtsstrategie der ehemaligen Kolonie China in die Moderne und die turbulente Entwicklung Russlands vom Niedergang der Sowjetunion zur Ära Putin ausgelöst wurden und werden. Der ehemals europäische und nun transatlantisch-neoliberale Kolonialismus hat über die Völker Afrikas, Zentral- und Lateinamerikas sowie Asiens immenses Leid gebracht.

Zu Recht erhofft sich die «Dritte Welt» den Umschwung von einer unipolar erzwungenen Weltordnung hin zu einer neuen multipolaren Weltordnung mit mehr Sicherheit und würdigeren Lebensbedingungen. In loser Folge publiziert der «Schweizer Standpunkt» Beiträge von Autoren aus verschiedenen Weltgegenden, die diese Entwicklungen widerspiegeln.

Im folgenden Artikel vertritt der ecuadorianische Historiker und Analyst Juan José Paz y Miño Cepeda die These, dass der Aufschwung der «Dritten Welt» auf dem Hintergrund der Ideen der Blockfreien Staaten und der Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt nun möglich wird.

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Der europäische Kolonialismus im südlichen Nordamerika und in Südamerika nutzte Spanien am meisten. Das Gebiet des heutigen Brasilien ging an Portugal und die Karibik blieb ein zwischen den Kolonialmächten umstrittenes Gebiet. Die Unabhängigkeitsprozesse in Lateinamerika und der Karibik zwischen 1804 und 1824 – nach der Unabhängigkeit der USA 1776 – markierten das historische Ende des europäischen Kolonialismus auf dem Kontinent. Die Unabhängigkeit einiger Gebiete wie jene der beiden Guyana, Surinam und der Falklandinseln stand noch aus; die Inseln Kuba und Puerto Rico wurden 1898 frei.

Späte Dekolonisierung in Afrika

Die europäische Kolonialisierung des afrikanischen Kontinentes kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Es war die Kongokonferenz von 1884 in Berlin, welche die Aufteilung dieses Kontinents unter den damaligen imperialistischen Staaten Europas regelte. Man wollte Konflikte unter den Kolonialmächten vermeiden. Die Begünstigten waren – in dieser Reihenfolge – Frankreich, das Vereinigte Königreich, Portugal, Deutschland, Belgien, Italien und Spanien. Die Unabhängigkeitsprozesse fast aller Länder, die man besser als afrikanische Dekolonisierung bezeichnen sollte, fanden erst ab den 1950er Jahren statt und dauerten bis in die 1990er Jahre. Mehrere dieser Prozesse waren blutig.

Voraussetzungen für Unterentwicklung

Die Befreiung der lateinamerikanischen Länder hat es trotz der im 19. (England) und 20. (USA) Jahrhundert entstandenen Abhängigkeiten ermöglicht, Nationalstaaten aufzubauen. Diese konnten zu verschiedenen Zeiten eine souveräne Politik betreiben und die Wirtschaft in relativer Autonomie modernisieren. Für den Kontinent Afrika als Ganzes galt dies nicht, da seine späte Befreiung den Gesamtfortschritt beeinträchtigte. Auf beiden Kontinenten schuf die europäische Kolonialisierung die Voraussetzungen für Unterentwicklung, Abhängigkeit und tiefe soziale Spaltungen in fast allen Ländern.

Blockfreie Staaten entstehen

Seit der Entstehung der «Dritten Welt» in der Konferenz von Bandung von 1955 in Indonesien, die die Bewegung der Blockfreien Staaten ins Leben rief, hat sich ein langer Prozess der Bündelung von Kräften, Willen, Bewusstsein und Politiken entwickelt, der die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas dazu gebracht hat, die Achtung ihrer Souveränität, Unabhängigkeit und Autonomie zu fordern, mit dem Ziel, ihre eigenen Wirtschaftssysteme und politischen Regime aufzubauen.

Der «Kalte Krieg», der die Welt in Länder mit «Freiheit» und «Demokratie» und solche in «kommunistischer Sklaverei» aufteilte, war lange Zeit ein Hindernis. Es entstand eine von den USA mit Unterstützung der kapitalistischen Mächte Westeuropas konstruierte Dualität. Damit konnten sie, um ihre Interessen durchzusetzen, die seit Jahrzehnten direkten oder indirekten Interventionen in «unterentwickelten» Ländern rechtfertigen.

Wichtige zeitgeschichtliche Prozesse

Die durch den Kalten Krieg geschaffene Dualität der Welt brach mit dem Zusammenbruch des sowjetischen und osteuropäischen Sozialismus zusammen. Die darauf folgende transnationale Globalisierung schien für immer zu triumphieren. Doch der Aufstieg Chinas, Russlands, der BRICS-Staaten und der Länder der «Dritten Welt», der sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts wie nie zuvor durchgesetzt hat, veränderte die Weltkarte erneut. Heute können die traditionellen westlichen Mächte ihre Vorstellungen und Interessen nicht mehr wie in der unmittelbaren Vergangenheit durchsetzen.

Diese Situation ist das Ergebnis einer Reihe von zeitgeschichtlichen Prozessen, von denen hier einige hervorgehoben werden sollen:

  • Die Erfahrungen des Interventionismus haben bei den Völkern Lateinamerikas wachsende Ablehnung und Widerstand hervorgerufen.
  • Der Fortschritt im Bildungswesen und in der Kommunikationstechnologie schärfen das Bewusstsein der Bürger und machen Informationen und Wissen für jedermann zugänglich, was Täuschungsversuche erschwert oder verunmöglicht.
  • Die wirtschaftliche Modernisierung und der materielle Fortschritt begünstigen autonome Entscheidungen, erweitern die Beziehungen zwischen den Ländern und variieren die «Abhängigkeiten».
  • Die Märkte schaffen neue Beziehungen. Daraus entstehen soziale Bewegungen sowie fortschrittliche und demokratische Kräfte (meist mit der Linken identifiziert), die auf eine veränderte Gesellschaft setzen.
  • Es werden neue Regierungen und Projekte gebildet, die auf Stärkung der Souveränität ausgerichtet sind.
  • In Lateinamerika wächst eine regionale Identität.

Der Globale Süden fordert Würde

Unter diesen neuen Bedingungen der globalen Entwicklung werden die alten Kolonialmächte in Frage gestellt. Allein in der vergangenen Woche häuften sich beispiellose Ereignisse: Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte auf einer Reise durch vier afrikanische Länder (ehemalige Kolonien), er wolle die französische Militärpräsenz reduzieren und stellte die Annäherung dieser Länder an Russland und China in Frage. In der Demokratischen Republik Kongo stellte sich Präsident Félix Tshisekedi ihm entgegen und forderte, er solle respektvoll sein und «die Art, wie Europa uns behandelt, muss sich ändern».1 In West- und Nordafrika mehren sich die Strassenproteste gegen Frankreich. Auch Namibias Präsident Hage Geingob rügte den deutschen Botschafter, weil dieser sich darüber beschwert hatte, dass sich mehr Chinesen als Deutsche im Land befinden.2

Mit einzigartiger Dreistigkeit warnte die republikanische US-Kongressabgeordnete María Elvira Salazar die argentinische Regierung, dass die USA diesem «Pakt mit dem Teufel» nicht tatenlos zusehen würden, wenn Argentinien eine Fabrik für chinesische Kampfflugzeuge baue, und dass «es zwei Welten gebe: die freie Welt und die Welt der Sklaven. «Ich hoffe, die Argentinier bleiben in der freien Welt», drohte sie,3 worauf der Sprecher der argentinischen Regierung eine deutliche Antwort lieferte.4

Mexiko – ein freies und souveränes Land

Die Republikaner Lindsey Graham (South Carolina) und John Neely Kennedy (Louisiana) haben vorgeschlagen, dass die US-Exekutive die Möglichkeit haben sollte, den Einsatz von Waffengewalt zu genehmigen, um in Mexiko gegen den Drogenhandel zu intervenieren.5 Darauf reagierte Präsident Andrés Manuel López Obrador mit Worten, welche die breite Stimmung der lateinamerikanischen Völker widerspiegeln. Er kritisierte die «Manie» und die «schlechte Angewohnheit» der USA, «sich für die Weltregierung zu halten», und ergänzte: «Aber noch schlimmer ist es, dass sie mit militärischer Gewalt in das öffentliche Leben eines anderen Landes eingreifen wollen. Mit anderen Worten, sie marschieren in ein fremdes Land ein, unter dem Vorwand, terroristische Drogenhändler zu jagen. Das ist natürlich reine Propaganda. Wir müssen alle diese interventionistischen Anmassungen zurückweisen.» Und abschliessend: «Mexiko ist weder ein Protektorat noch eine Kolonie der USA. Mexiko ist ein freies, unabhängiges und souveränes Land. Wir nehmen von niemandem Befehle entgegen6

Der auf Lateinamerika ausgeübte Druck, zum Ukraine-Krieg Stellung zu nehmen, zielt auch darauf ab, die Region im Sinne der Interessen der westlichen Welt zu positionieren. Die Region will jedoch ihren Status als Friedenszone bewahren, ohne von einer fremden Macht vereinnahmt zu werden. In einen Konflikt verwickelt zu werden, steht im Widerspruch zu den souveränen Interessen Lateinamerikas, auch wenn der Krieg bereits regional verurteilt wurde.

Unaufhaltsamer Aufschwung der «Dritten Welt»

Es ist offensichtlich, dass die bisher abhängigen Länder einen langsamen, aber historisch unaufhaltsamen Aufschwung erleben, der durch den Zerfall der westlichen Hegemonie und die Entstehung einer multipolaren Welt ermöglicht wird. In diesem entstehenden «Mundus Novus» des 21. Jahrhunderts [«Neue Welt» ist der Titel des Reiseberichtes von Amerigo Vespucci von 1502] gewinnen die Ideale der Bandung-Konferenz an Kraft und verdienen es, erneuert zu werden.

Diese Entwicklung schafft die Voraussetzungen für die Annäherung Lateinamerikas an die anderen Nationen der «Dritten Welt» mit dem Ziel, eine geopolitische Front zu schaffen, die sich auch auf der internationalen Bühne auswirkt, und zwar auf der Grundlage neuer Formen der politischen Integration zur Verteidigung der Souveränitäten gegen die Absichten der westlichen Mächte, die Welt erneut in den angeblichen Block der «Demokratie» und die «teuflische Sphäre» der Regionen des «Autoritarismus» aufzuteilen.

* Der Ecuadorianer Juan José Paz y Miño Cepeda promovierte in Zeitgeschichte an der Universität Santiago de Compostela. Er ist akademischer Koordinator des Verbandes der Historiker Lateinamerikas und der Karibik (ADHILAC) in Ecuador. Ebenso ist er Vollmitglied der Nationalen Akademie für Geschichte. Er war Dekan der Fakultät für Kommunikation, Kunst und Geisteswissenschaften an der UTE-Universität in Quito. Er war auch Stadtchronist und hatte Gastprofessuren an mehreren Universitäten in Lateinamerika, Nordamerika und Europa. Juan José Paz y Miño Cepeda gilt als einer der Begründer der «unmittelbaren Geschichte». Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über Ecuador und Lateinamerika verfasst.

Quelle: Blog des Autors «Historia y Presente».
https://www.historiaypresente.com/america-latina-y-el-renacer-del-tercer-mundo/, 13. März 2023

(Übersetzung Vilma Guzmann und «Schweizer Standpunkt»)

1 https://bit.ly/3mCPTVQ / https://bit.ly/3LdQ6ZQ

2 https://bit.ly/3yspCMP

3 https://bit.ly/3ZVwFZN

4 https://bit.ly/3JoIano

5 https://bit.ly/3ZxmpqV

6 https://bit.ly/3JqHihP / https://bit.ly/3SZD6sP / https://bit.ly/3YzyQBv

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