IGH-Gutachten zur israelischen Besatzung
Eine historische Entscheidung
Kommentar von Norman Paech,* Deutschland
Dieses Gutachten sollte niemand überraschen. Jede und jeder in Regierung, Parlament und Medien weiss seit Jahren, dass Israels Besatzung mitsamt den Siedlungen illegal ist und sich daher aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen hat. Schon in seinem ersten Gutachten von 2004, als der Internationale Gerichtshof den Bau der Mauer für rechtswidrig erklärte, soweit er auf palästinensisches Gebiet übergreift, hatte er keinen Zweifel an der Rechtswidrigkeit von Besatzung und Siedlungsbau gelassen.
Nun aber ist er auf Grund der Fragen, die ihm die UNO-Generalversammlung Ende Dezember 2022 gestellt hatte, noch deutlicher und präziser geworden. Die Besatzung sei das Produkt «systematischer Diskriminierung, Segregation und Apartheid», eine «de-facto-Annexion». Die Regierung müsse sofort alle Siedlungsaktivitäten stoppen und alle Siedler aus den bestehenden Siedlungen evakuieren, ferner die «Rückkehr aller Palästinenser, die während der Besatzung vertrieben wurden, an ihren ursprünglichen Wohnort» ermöglichen. Israel habe für alle Schäden, die alle «natürlichen und juristischen Personen» durch die Besatzung erlitten hätten, Entschädigung zu leisten. Zudem wiederholt der Gerichtshof seine Forderung von 2004 nach Rückbau der Mauer auf israelisches Territorium.
Da der Auftrag zu dem Gutachten vor dem 7. Oktober 2023 erteilt wurde, geht der Gerichtshof nicht auf den Krieg in Gaza und seine entsetzlichen Folgen ein. Er erklärt jedoch den Gazastreifen als faktisch von Israel besetztes Gebiet trotz des damaligen Abzugs von Armee und Siedlern. Die Kontrolle Israels über den Streifen sei ausschlaggebend.
Netanjahu hat sofort das Gutachten als «absurd» bezeichnet, an das er sich nicht halten werde: «Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land, auch nicht in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem oder in Judäa und Samaria, unserer historischen Heimat.» Nun wird es noch enger für Israels engste Verbündete USA und BRD, diese realitätsferne und rechtswidrige Fiktion weiter zu unterstützen. Denn der IGH hat auch festgestellt, dass alle Staaten und internationale Organisationen, einschliesslich UN- Generalversammlung und Sicherheitsrat verpflichtet sind, die Besatzung nicht als legal anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung für ihre Aufrechterhaltung zu leisten.
An ihnen allen liegt es nun, diese Forderungen, für die der IGH eine solide höchstrichterliche Basis geliefert hat, politisch gegenüber Israel durchzusetzen. Dabei gilt es vor allem, die kleine Hintertür zu schliessen, die das Gutachten gelassen hat, indem es den Rückzug aus den besetzten Gebieten nur «so schnell wie möglich» fordert. Der IGH hat die Staaten in die Pflicht genommen, über fünfzig Jahren Unterdrückung, Landraub und Apartheid in Palästina die Unterstützung zu entziehen und zu beenden. Das ist nicht neu und nicht verbindlich aber dennoch eine historische Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs.
Hamburg, 20. Juli 2024
* Norman Paech, geboren 1938, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. |
Quelle: https://www.norman-paech.de/ Erstveröffent-lichung in «junge Welt»: https://www.jungewelt.de/artikel/479948.historische-entscheidung.html, 22. Juli 2024