«Die Katze ist aus dem Sack»

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

Die USA kämpfen in der Ukraine, um ihre globale Hegemonie zu bewahren

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(16. Januar 2023) Der parteiübergreifende Konsens im Beltway [Washington, D.C.], dass die Vereinigten Staaten die «unverzichtbare» Weltmacht sind, wird in der Regel den Neokonservativen zugeschrieben, die seit den 1970er Jahren die treibende Kraft der Aussen- und Sicherheitspolitik der USA in den aufeinander folgenden Regierungen waren.

Ein Artikel in der Washington Post vom 7. Januar 2023 mit dem Titel «Die Zeit ist nicht auf der Seite der Ukraine»,1 unterstreicht dieses Paradigma. Verfasst wurde der Artikel von der ehemaligen Aussenministerin Condoleezza Rice (während der Präsidentschaft von George W. Bush) und dem Verteidigungsminister Robert Gates (der sowohl unter Bush als auch unter Barack Obama diente).

Rice und Gates sind überzeugte kalte Krieger, die sich für den Krieg der Nato gegen Russland begeistern. Sie finden jedoch, dass Präsident Biden sich in der Ukraine «entschiedener» engagieren sollte.

Der Meinungsartikel erinnert an die beiden Weltkriege, die den Aufstieg der USA zur Weltmacht markierten, und warnt, dass die seit 1990 von den USA geführte «regelbasierte Ordnung» – ein Codewort für die globale Hegemonie der USA – in Gefahr ist, wenn Biden in der Ukraine versagt.

Rice und Gates räumen indirekt ein, dass Russland im Gegensatz zu den bisherigen triumphalistischen Darstellungen des Westens auf der Erfolgsspur ist. Offensichtlich zerrt die erwartete russische Offensive an ihren Nerven.

Die Stellungnahme steht auch im Zusammenhang mit der amerikanischen Politik. Die Pattsituation um den Sprecher des Repräsentantenhauses und ihr dramatisches Ende in einem knallharten politischen Kampf zwischen den Republikanern lässt einen dysfunktionalen Kongress bis zu den Wahlen 2024 erahnen.2

Kevin McCarthy, der die Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Donald Trump hat, gewann schliesslich, aber nur nachdem er eine Reihe von Zugeständnissen an den populistischen Flügel der Republikanischen Partei gemacht hatte, was seine Autorität schwächt. Die Nachrichtenagentur AP berichtete:3 «Es wurden Finger gezeigt, Worte gewechselt und Gewalt offenbar gerade noch abgewendet. […] Es war das Ende eines bitteren Patts, das die Stärken und die Zerbrechlichkeit der amerikanischen Demokratie offengelegt hat.»

Ein hochrangiger Kreml-Politiker hat sich bereits dazu geäussert.4 Nach seiner Wahl nannte McCarthy in seiner Erklärung als neuer Sprecher des Repräsentantenhauses seine Prioritäten – nämlich das Engagement für eine starke Wirtschaft, die Bekämpfung der illegalen Einwanderung über die mexikanische Grenze und den Wettbewerb mit China, liess aber jeden Hinweis auf die Lage in der Ukraine oder die Bereitstellung von Mitteln für Kiew aus.

Noch im November hatte er erklärt, die Republikaner im Repräsentantenhaus würden sich einer unbegrenzten und ungerechtfertigten Finanzhilfe für die Ukraine widersetzen.

Nun weigern sich Rice und Gates, im Gleichschritt mit Trump zu marschieren. Doch auch wenn seine Rolle geschwächt ist, bleibt Trump ein aktiver Akteur, der mit seiner massiven Präsenz die funktionale Kontrolle ausübt und die bei weitem grösste Stimme in der Republikanischen Partei ist. Was diese heute ausmacht, ist zweifellos Trump. Daher wird seine Unterstützung für McCarthy von entscheidender Bedeutung sein.

Biden ist sich dessen bewusst. Es ist denkbar, dass der Meinungsartikel von Rice und Gates vom Weissen Haus und dem US-Sicherheitsapparat vorbereitet und von den Neokonservativen verfasst wurde. Der Meinungsartikel erschien am Tag nach der gemeinsamen Erklärung von Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz vom 5. Januar,5 in der sie ihre «unerschütterliche Solidarität» mit der Ukraine betonten.

Unter massivem Druck von Biden hatten Deutschland und Frankreich letzte Woche nachgegeben und der Ukraine Schützenpanzer in Aussicht gestellt. Scholz sagte auch zu, dass Deutschland eine zusätzliche Patriot-Luftabwehrbatterien an die Ukraine liefern wird. (Ein führender SPD-Politiker in Berlin hat inzwischen Vorbehalte geäussert.)

Am selben Tag, an dem der Meinungsartikel erschien, veranstaltete das Pentagon – ungewöhnlich für einen Samstag – ein Pressegespräch mit Laura Cooper,6 stellvertretende Verteidigungsministerin für internationale Sicherheitsfragen in Russland, der Ukraine und Eurasien. Cooper erklärte ausdrücklich, dass der Krieg in der Ukraine die globale Stellung der USA bedroht:

«Aus einer gesamtstrategischen Perspektive kann man gar nicht genug betonen, welch verheerende Folgen es hätte, wenn Putin sein Ziel, die Ukraine zu übernehmen, erreichen würde. Dies würde die internationalen Grenzen in einer Weise neu definieren, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Und unsere Fähigkeit, diese Errungenschaften rückgängig zu machen und die Souveränität einer Nation zu unterstützen und zu ihr zu stehen, ist etwas, das nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt Widerhall findet.»

Die Katze ist aus dem Sack – die USA kämpfen in der Ukraine, um ihre globale Hegemonie zu bewahren. Ob Zufall oder nicht, der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat am Wochenende in einem aufsehenerregenden Interview in Kiew geäussert,7 dass Kiew sich bewusst von der Nato in ihrem Konflikt mit Moskau benutzen lässt! Zitat:

«Auf dem Nato-Gipfel in Madrid (im Juni 2022) wurde deutlich formuliert, dass die Hauptbedrohung für die Allianz in den kommenden zehn Jahren von der Russischen Föderation ausgehen wird. Heute ist die Ukraine dabei, diese Bedrohung zu beseitigen. Wir erfüllen heute den Auftrag der Nato. Sie vergiessen nicht ihr Blut. Wir vergiessen das unsere. Deshalb ist die Nato verpflichtet, uns mit Waffen zu versorgen.»

Reznikov, ein ehemaliger Offizier der sowjetischen Armee, behauptete, dass er persönlich Grusskarten und Textnachrichten von westlichen Verteidigungsministern in diesem Sinne erhalten habe. Der Einsatz könnten nicht höher sein, denn Reznikov behauptete auch, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine beschlossene Sache sei.

In der Tat kündigte das Pentagon am 7. Januar das bisher grösste Sicherheitspaket der Biden-Administration für die Ukraine an,8 dass im Rahmen des «Presidential Drawdown» geschnürt wurde, und die Biden-Administration zieht offensichtlich alle Register. Eine weitere Sitzung des UN-Sicherheitsrats ist für den 13. Januar angesetzt.

Putin hat jedoch klargestellt,9 dass «Russland für einen ernsthaften Dialog offen ist – unter der Bedingung, dass die Kiewer Behörden die wiederholt gestellten klaren Forderungen erfüllen und die neuen territorialen Gegebenheiten anerkennen».

Was den Krieg betrifft, so sind die Nachrichten aus dem Donbass äusserst besorgniserregend. Soledar ist in russischer Hand, und die Wagner-Kämpfer ziehen die Schlinge um Bakhmut – einen strategischen Verkehrsknotenpunkt und Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Einsätze im Donbass – immer enger.

Andererseits zeigt sich Moskau wider Erwarten unbeeindruckt von sporadischen theatralischen ukrainischen Drohnenangriffen innerhalb Russlands. Die russische öffentliche Meinung steht nach wie vor fest auf der Seite Putins.

Der Befehlshaber der russischen Streitkräfte, General Sergej Surowikin, hat der Befestigung der so genannten «Kontaktlinie» Vorrang eingeräumt. Sie erweist sich als wirksam gegen ukrainische Gegenangriffe.

Das Pentagon ist sich über Surowikins künftige Strategie im Unklaren. Nach dem, was man über seinen brillanten Erfolg bei der Vertreibung von Nato-Offizieren aus dem syrischen Aleppo im Jahr 2016 weiss, sind Belagerungs- und Zermürbungskrieg Surowikins Stärke. Aber man weiss ja nie. Russland rüstet in Weissrussland immer weiter auf. Die Raketensysteme S-400 und Iskander sind dort stationiert worden. Ein Nato-Angriff (Polens) auf Belarus ist nicht mehr realistisch.

Am 4. Januar begrüsste Putin das neue Jahr mit der gewaltigen Fregatte Admiral Gorschkow,10 die mit dem «hochmodernen Hyperschall-Raketensystem Zircon, das keine Entsprechung hat», zu einem «Langstrecken-Marineeinsatz über den Atlantik, den Indischen Ozean und das Mittelmeer» aufgebrochen ist.

Eine Woche zuvor wurde das sechste raketenbestückte strategische Atom-U-Boot der Borei-A-Klasse, die Generalissimus Suworow, in die russische Marine aufgenommen. Diese U-Boote können 16 ballistische Interkontinentalraketen des Typs Bulava mitführen.

Der Nebel des Krieges umhüllt die russischen Absichten. Rice und Gates haben gewarnt, dass die Zeit für Russland arbeitet:

«Die militärischen Fähigkeiten und die Wirtschaft der Ukraine hängen jetzt fast vollständig von den Lebensadern des Westens ab – in erster Linie von den Vereinigten Staaten. Ohne einen weiteren grossen ukrainischen Durchbruch und Erfolg gegen die russischen Streitkräfte wird der Druck des Westens auf die Ukraine, einen Waffenstillstand auszuhandeln, mit den Monaten der militärischen Pattsituation zunehmen. Unter den derzeitigen Umständen würde jeder ausgehandelte Waffenstillstand den russischen Streitkräften eine starke Position verschaffen.»

Dies ist eine brutal offene Einschätzung. Bidens Anruf bei Scholz am Freitag zeigt, dass auch er sich Sorgen macht. Angesichts der Zersplitterung der politischen Klasse in Amerika kann sich Biden auch keine Risse in der Einheit der Verbündeten leisten.

Kurioserweise war dies auch die Hauptaussage eines Artikels, den der führende russische Experte Andrej Kortunow vor zwei Wochen in der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Chinas, Global Times, unter dem Titel «Innenpolitische Probleme der USA könnten die Ukraine an den Rand des öffentlichen Diskurses in den USA drängen» [«US domestic woes could push Ukraine to sidelines of American public discourse»] veröffentlichte.11 Kortunow schrieb:

«Wenn man die Emotionen beiseite lässt, muss man akzeptieren, dass der Konflikt nicht nur für die Ukraine und Russland, sondern auch für die USA bereits existenziell geworden ist: Die Biden-Administration kann eine Niederlage in der Ukraine nicht hinnehmen, ohne mit erheblichen negativen Auswirkungen auf die Positionen der USA in der ganzen Welt rechnen zu müssen.»

Kortunow schrieb dies fast zwei Wochen bevor Rice und Gates die gleiche metaphysische Wahrnehmung äusserten. Aber die Neokonservativen sind noch nicht bereit zu akzeptieren, dass sie tatsächlich vor der Wahl stehen – Biden an der Seite Putins auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung zu begleiten oder … in den unruhigen Gewässern zu versinken.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/bidens-existential-angst-in-ukraine, 8. Januar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/07/condoleezza-rice-robert-gates-ukraine-repel-russia/

2 https://www.msn.com/en-us/news/politics/kevin-mccarthy-may-have-just-won-himself-the-most-dysfunctional-congress-ever/ar-AA163YTt

3 https://apnews.com/article/politics-united-states-house-of-representatives-kevin-mccarthy-us-republican-party-0938c7358f41c83759246f8949ac7c15

4 https://tass.com/politics/1559421

5 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2023/01/05/joint-press-statement-following-a-call-between-the-president-joe-biden-and-the-chancellor-of-the-federal-republic-of-germany-olaf-scholz/

6 https://www.defense.gov/News/Transcripts/Transcript/Article/3261666/pentagon-press-secretary-brigadier-general-pat-ryder-and-deputy-assistant-secre/

7 https://sputniknews.com/20230107/bombshell-admission-ukraine-is-carrying-out-natos-mission-against-russia-defense-chief-says-1106118578.html

8 https://www.defense.gov/News/Releases/Release/Article/3261263/more-than-3-billion-in-additional-security-assistance-for-ukraine/

9 http://en.kremlin.ru/events/president/news/70328

10 http://en.kremlin.ru/events/president/news/70325

11 https://www.globaltimes.cn/page/202212/1282817.shtml

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