Die Araber erläutern, dass sie sich in einem von den USA geführten Krieg im Nahen Osten der Multipolarität anschliessen werden
von M. K. Bhadrakumar,* Indien
(25. Oktober 2024) Reuters berichtete am Freitag unter Berufung auf drei an der Golfregion ansässige Quellen, dass die Staaten der Region bei Washington Lobbyarbeit betreiben, um Israel davon abzuhalten, die Ölförderanlagen des Iran anzugreifen, «im Rahmen ihrer Bemühungen, nicht ins Kreuzfeuer zu geraten». In dem exklusiven Reuters-Bericht1 wurde darauf hingewiesen, dass sich Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar auch weigern, Israel für Angriffe auf den Iran ihren Luftraum überfliegen zu lassen.
Diese Schritte erfolgten nach einem diplomatischen Vorstoss des Iran, um seine sunnitischen Nachbarn am Golf davon zu überzeugen, ihren Einfluss auf Washington geltend zu machen. Saudi-Arabien hat der Biden-Regierung klargemacht, dass es entschlossen ist, den Weg der Normalisierung mit dem Iran weiterzuverfolgen, der mit der von China im März 2023 vermittelten Annäherung begann. Diese Bekräftigung, weit im zweiten Jahr der iranisch-saudischen Entspannung, macht jegliche Resthoffnung zunichte, dass sich arabische Staaten irgendwann einer «Koalition der Willigen» gegen den Iran anschliessen könnten.
Insgesamt positionieren sich die Golfstaaten so, dass sie zu den wichtigsten Akteuren bei der derzeitigen Machtverteilung in ihrer Region – und in der Welt – gehören. Teheran und Riad haben einen Weg gefunden, die Nachbarschaft auf verantwortungsvolle Weise unter sich aufzuteilen. Offensichtlich ist die arabische Welt bereits in die postamerikanische und postwestliche Ära eingetreten.
Heute zeugt dies auch von Riads Unbehagen über Israels anhaltenden Krieg gegen Gaza und von Saudi-Arabiens Frustration über die USA, die sich weigern, Druck auf die Regierung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu auszuüben, damit dieser einem Waffenstillstand zustimmt.
Der iranische Aussenminister Abbas Araqchi war am Mittwoch in Riad und wurde von Kronprinz Mohammed bin Salman empfangen. Die saudische Verlautbarung2 besagt, dass sie die bilateralen Beziehungen und die regionalen Entwicklungen sowie die «in diese Richtung unternommenen Anstrengungen» erörtert haben. An dem Treffen nahmen der saudische Verteidigungsminister Prinz Khalid bin Salman, der Aussenminister Prinz Faisal bin Farhan bin Abdullah und der Staatsminister und Nationale Sicherheitsberater Dr. Musaed bin Mohammed Al-Aiban teil.
Araqchi führte auch Gespräche mit Prinz Faisal. «Die Gespräche konzentrierten sich auf die Beziehungen und erkundeten Möglichkeiten, sie in verschiedenen Bereichen zu stärken», heisst es in dem saudischen Bericht. Am Vortag hatte Prinz Khalid mit seinem amerikanischen Amtskollegen, Verteidigungsminister Lloyd Austin, gesprochen.
Die Saudische Presseagentur berichtete3 am Dienstag [8. Oktober], dass die beiden Verteidigungsminister «die jüngsten regionalen und internationalen Entwicklungen, die Bemühungen zur Deeskalation der Spannungen in der Region und Möglichkeiten zur Gewährleistung der regionalen Sicherheit und Stabilität erörtert haben».
Die Saudis sind ganz klar auf Zack und sich durchaus bewusst, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung der Ruhe und der Verhinderung des Übergreifens des Konflikts auf die Region spielen können. Die Pattsituation zwischen Israel und dem Iran entwickelt sich in systemischer Hinsicht.
Die militärischen Auswirkungen sind gravierend, wenn die Golfstaaten ihren Luftraum für Israel (und die USA) für Einsätze gegen den Iran schliessen.4 Die israelischen Jets müssen dann einen Umweg über das Rote Meer nehmen und die Arabische Halbinsel umfliegen, um sich dem iranischen Luftraum zu nähern, was natürlich eine Luftbetankung und alles, was dazu gehört, bei einem so heiklen Einsatz, der möglicherweise wiederholt durchgeführt werden muss, erforderlich macht. In einem «Raketenkrieg» könnte der Iran die Oberhand gewinnen.
Inwieweit die koordinierte Aktion der Golfstaaten, die USA zur Deeskalation der Situation zu bewegen, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten, da dies weitgehend davon abhängt, ob sich Netanjahu mässigt, wofür es keine Anzeichen gibt. Dennoch hat Präsident Joe Biden seinen Teil dazu beigetragen, indem er Netanjahu am Mittwoch angerufen hat. In der Erklärung des Weissen Hauses wurde das Hauptthema der Gespräche zwischen den beiden Männern jedoch sorgfältig umschifft.
Es liegt jedoch nahe, dass der Anruf von Biden eine gewisse Wirkung auf Netanjahu hatte. Die New York Times berichtete,5 dass das israelische Sicherheitskabinett am Donnerstag zu einer Sitzung zusammengekommen sei, bei der Netanjahu mit hochrangigen Ministern «den Gesamtplan für Israels Vergeltungsmassnahmen» besprochen habe.
Die Ergebnisse des Treffens wurden nicht veröffentlicht. Und die Times schloss ihren Bericht mit der Feststellung, dass «die Analysten nach wie vor sagen, dass keine der beiden Seiten an einem totalen Krieg interessiert zu sein scheint». In der Tat ist die Besorgnis der Golfstaaten zu einem zentralen Gesprächsthema zwischen den US-amerikanischen und den israelischen Vertretern geworden.
Nach Bidens Anruf forderte Netanjahu den Verteidigungsminister Yoav Gallant, der nach Washington reisen sollte, auf, seinen Besuch abzusagen. Unterdessen reiste der Chef des US-Zentralkommandos, General Michael Kurilla, zu einer «Lagebeurteilung» nach Israel. Am Donnerstag rief Lloyd Austin den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant an, aber der Schwerpunkt lag auf dem Libanon.6 Zweifellos zieht die Biden-Regierung in Tel Aviv viele Fäden.
Netanjahu selbst ist als Realist bekannt. Tatsache ist, dass Teheran ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass Tel Aviv für weitere feindliche Aktionen einen hohen Preis zahlen werde.7 Die Warnung wird ernst genommen, denn sowohl das Militär als auch der Geheimdienst Israels – und sogar Netanjahu selbst – haben kürzlich einen Vorgeschmack auf die Abschreckungsfähigkeit des Irans erhalten.
Zweitens hat der Ölpreis bereits begonnen zu steigen, und das ist etwas, was die Kandidatin Kamala Harris nicht erleben möchte.
Drittens hat der Iran seine Nuklearanlagen über das ganze Land verteilt, und die kritische Infrastruktur liegt tief in den Eingeweiden schwer zugänglicher Berge verborgen.
Der iranische Raketenangriff vom 1. Oktober hat auch gezeigt, dass der Iran über hervorragende Geheimdienstinformationen verfügt, um zu wissen, was, wo und wann anzugreifen ist. In einem kleinen Land wie Israel ist es schwierig, sich zu verstecken – auch wenn Teheran sich vielleicht nicht so weit erniedrigen würde, seine Gegner zu enthaupten.
Alles in allem ist im Nahen Osten eine schreckliche Schönheit entstanden: Wie weit werden die USA gehen, um Israel zu retten?
Die in dieser Woche deutlich gewordene beginnende Ausrichtung der arabischen Staaten, die sich weigern, sich an jeder Form eines Angriffs auf den Iran zu beteiligen, und die Zeichen einer «islamischen Solidarität», die sektiererische Gräben überbrückt, sind ihrem Wesen nach als Wendepunkte zu betrachten. Das ist die erste Erkenntnis.
Zweitens wird dies kein kurzer, knackiger Krieg. Colonel Doug Macgregor, ein scharfsinniger US-Kriegsveteran im Golfkrieg und ehemaliger Berater des Pentagons in der Trump-Administration sowie ein bekannter Militärhistoriker, zog treffend die Analogie zum Dreissigjährigen Krieg in Europa (1618–1648), der als Kampf zwischen den katholischen und protestantischen Staaten begann, die das Heilige Römische Reich bildeten, sich aber im Laufe der Zeit weiterentwickelte und immer weniger mit Religion zu tun hatte. Er verwandelte sich in einen politischen Kampf, bei dem es mehr darum ging, welche Gruppe letztlich Europa regieren würde, was schliesslich das geopolitische Gesicht Europas ultimativ veränderte.
Um aus einem Essay von Pascal Daudin aus dem Jahr 2017 zu zitieren, einem Veteranen des IKRK, der in wichtigen Konfliktsituationen wie Pakistan, Afghanistan, Libanon, Irak, Iran, Zentralasien, Kaukasus, Saudi-Arabien und auf dem Balkan eingesetzt wurde:
Der Dreissigjährige Krieg entwickelte sich zu einem «komplexen, langwierigen Konflikt zwischen vielen verschiedenen Parteien – im modernen Sprachgebrauch als staatliche und nichtstaatliche Akteure bekannt. In der Praxis handelte es sich um eine Reihe getrennter, aber miteinander verbundener internationaler und interner Konflikte, die von regulären und irregulären Streitkräften, Partisanengruppen, Privatarmeen und Wehrpflichtigen geführt wurden.» (hier)8
Es stimmt, dass ein Krieg im Nahen Osten unter den gegenwärtigen Umständen bereits Kämpfer, Zuschauer und Beobachter zählt, die, wenn sich der Konflikt zu einem neuen «Kreuzzug» entwickelt, unweigerlich eingreifen werden, wie etwa die Türkei und Ägypten.
Dieser Konflikt wird Israel höchstwahrscheinlich erschöpfen – und die amerikanische Präsenz im Nahen Osten zunichte machen –, obwohl ein längerer Krieg einen intellektuellen Umbruch auslösen könnte, der letztlich die Aufklärung in die Region bringen würde, so wie es der Dreissigjährige Krieg für Europa getan hatte.
* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline». |
Quelle: https://www.indianpunchline.com/the-arabs-are-transparently-displaying-their-crossover-to-multi-alignment-in-a-us-led-middle-eastern-war/, 12. Oktober 2024
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
2 https://english.aawsat.com/gulf/5069462-saudi-crown-prince-iran-fm-discuss-regional-developments
3 https://english.aawsat.com/gulf/5069211-saudi-arabia-us-discuss-de-escalation-efforts-region
4 https://nournews.ir/en/news/193519/Saudi,-UAE,-Qatar-seal-airspace-to-Israel-for-anti-Iran-move
8 https://blogs.icrc.org/law-and-policy/2017/05/23/thirty-years-war-first-modern-war/