Der Westen beklagt «Gräueltaten» und unterstützt gleichzeitig Israels Genozid in Gaza

Jonathan Cook.
(Bild zvg)

Das Problem ist nicht die «weltweite Untätigkeit» sondern die intensive Unterstützung durch USA und UK

von Jonathan Cook,* Israel

(21. Dezember 2023) Wie schaffen es Politiker, Diplomaten, die Medien und sogar die Menschenrechtsgemeinschaft, uns politisch unwissend, fügsam und passiv zu halten – eine kollektive Denkweise, die uns daran hindert, ihre Macht und den Status quo, von dem sie profitieren, in Frage zu stellen?

Die Antwort lautet: Indem sie uns die Realität und ihre eigene Rolle bei der Gestaltung der Realität ständig falsch darstellen. Und sie tun dies so erfolgreich, weil sie uns gleichzeitig mit dem Scheinwerferlicht blenden, indem sie vorgeben, die Welt verbessern zu wollen – eine besserer Welt zu schaffen, bei der in Wahrheit die Gefahr besteht, dass ihre eigene Macht ernsthaft geschmälert würde, wenn sie realisiert würde.

Ein perfektes Beispiel dafür, wie diese grosse Täuschung funktioniert, lieferte am Wochenende ein Bericht in der vermeintlich fortschrittlichen Zeitung Guardian mit der Überschrift1 «Die Welt sieht sich aufgrund globaler Untätigkeit einem ‹erhöhten Risiko› von Massengrausamkeiten gegenüber».

Im einleitenden Absatz heisst es, dass Menschenrechtsaktivisten befürchten, dass die «internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen um ein Eingreifen zur Verhinderung von Massengrausamkeiten aufgegeben hat, was zur Befürchtung führt, dass solche Vorkommnisse auf der ganzen Welt zur Norm werden könnten».

In der Praxis hat sich dieses «Versagen» dem Bericht zufolge darin manifestiert, dass die westlichen Staaten das Prinzip der «Responsibility to Protect» (R2P) – oder «Schutzverantwortung» – aufgegeben haben. Dieses Prinzip und die damit verbundenen «humanitären» Vorwände wurden benutzt, um die Einmischung der USA und ihrer Verbündeten seit den 1990er Jahren im Kosovo, in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien zu rechtfertigen – mit katastrophalen Folgen.

Millionen von Menschen wurden durch R2P-ähnliche Interventionen getötet und Dutzende Millionen vertrieben, was zu Massenbewegungen von Menschen führte, die heute von westlichen Staaten als «illegale Einwanderungsbedrohung» angesehen werden.

Anhaltende Massaker

Der Hintergrund für die Besorgnis der Menschenrechtsgemeinschaft, so heisst es, sind die zunehmenden Verstösse gegen die Völkermordkonvention und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Beide wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet, um eine Wiederholung des nationalsozialistischen Holocausts und der weit verbreiteten Gräueltaten an der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten der Kämpfe zu verhindern.

Man könnte nun annehmen, dass diese Befürchtungen durch den ungeheuerlichsten Völkermord der Neuzeit noch verstärkt wurden – und deshalb bei den Vereinten Nationen zur Sprache kamen: das seit zwei Monaten andauernde Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die mutwillige Zerstörung der meisten ihrer Häuser, um die Überlebenden aus dem Gazastreifen und nach Ägypten zu vertreiben.

Es ist bekannt, dass Israel bisher mindestens 17 000 Palästinenser getötet hat, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Mehr als 100 000 Häuser wurden unbewohnbar gemacht. Etwa 2,3 Millionen Palästinenser wurden in einen winzigen, immer kleiner werdenden Raum nahe der Grenze zu Ägypten gepfercht, wo ihnen Wasser, Nahrungsmittel und Treibstoff verweigert werden.

Dieser kombinierte Akt von Völkermord und ethnischer Säuberung ist der intensivste, sichtbarste und industriellste – unter Einsatz der allerneuesten und stärksten verfügbaren Waffen – seit Menschengedenken.

Aber das scheint erstaunlicherweise nicht das zentrale Anliegen der «internationalen Gemeinschaft» zu sein. Dem Guardian zufolge sind die folgenden globalen Krisen die Hauptursache für einen steilen Anstieg der Gräueltaten:

«Auf die Massentötung von Zivilisten in Syrien und der Ukraine und die Internierung von über einer Million Uiguren und anderen Muslimen in China folgten Kriegsverbrechen in Äthiopien und eine Wiederaufnahme der ethnischen Säuberung in der sudanesischen Provinz Darfur, 20 Jahre nach dem Beginn des dortigen Völkermords.»

Fällt Ihnen an dieser Liste etwas Besonderes auf? Sie enthält nur Massengrausamkeiten, die von denjenigen begangen werden, die nicht fest in der imperialen Sphäre der Unterwerfung der USA stehen.

Das massenhafte Abschlachten von Zivilisten in Gaza, das seit vielen Wochen in den Schlagzeilen ist, kann nicht glaubhaft übersehen werden. Es wird also erwähnt – aber es fällt auf, dass das Rampenlicht von den aktuellen, höchst relevanten Ereignissen in Israel und Palästina weggelenkt wird. Der Völkermord in Gaza, der Millionen von Demonstranten in ganz Europa und Nordamerika auf die Strasse getrieben hat, wird zur Nebensache:

«Die Ermordung von 1200 Israelis, zumeist Zivilisten, durch die Hamas am 7. Oktober und die anschliessende israelische Invasion in Gaza, bei der die meisten der geschätzten 16 000 Toten Frauen und Kinder waren, haben das blutige Chaos noch vergrössert.»

Vielfältige Täuschung

Die Täuschung hier ist vielfältig, und das nicht nur, weil Gaza ganz oben auf der Liste der Sorgen stehen sollte und nicht ganz unten.

Die formelhafte Formulierung in diesem Absatz zielt – wie immer in der westlichen Berichterstattung – darauf ab, eine falsche Gleichwertigkeit zwischen den Aktionen der Hamas und denen Israels herzustellen und den Eindruck zu erwecken, dass Israels Massenabschlachten von Palästinensern durch das vorangegangene Massenabschlachten von Israelis durch die Hamas verursacht und entschuldigt wird.

Es muss wohl kaum noch einmal betont werden, dass dem Ausbruch der Hamas aus dem Gefängnis Gaza – und den vorhersehbaren schrecklichen Folgen – jahrzehntelange militärische Übergriffe Israels auf die Palästinenser unter militärischer Besatzung und eine 16-jährige illegale Belagerung ihres Territoriums vorausgingen, durch die mehr als 2 Millionen Menschen ihrer Freiheit, ihrer Grundrechte und ihrer Würde beraubt wurden.

Im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem finden seit Jahrzehnten ständig Gräueltaten im Zeitlupentempo statt – lange bevor die Menschenrechtsgemeinschaft, die UNO und der Guardian ihre neue Besorgnis über ein «erhöhtes Risiko von Gräueltaten» äusserten.

Es besteht auch ein deutlicher Unterschied zwischen der aussergewöhnlichen, einmaligen Gewalt, die die Hamas am 7. Oktober aufgrund dramatischer und unerwarteter Fehler in Israels Überwachung und Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen ausüben konnte, und Israels Intensivierung der strukturellen Gewalt einer jahrzehntelangen Besetzung und Belagerung.

Dies sind ganz offensichtlich nicht dieselben Dinge – und sie stellen keine auch nur annähernd vergleichbare Bedrohung für den Status der Völkermordkonvention und der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» dar.

Etwas anderes zu behaupten – wie es die gesamte westliche Berichterstattung ständig tut – bedeutet, die Bedrohung des Völkerrechts durch die von der Hamas begangenen Gräueltaten zu übertreiben und die Bedeutung von Israels Völkermord und ethnischer Säuberung drastisch zu unterschätzen.

Labor für Waffentests

Es gibt jedoch ein weitaus tiefer gehendes Problem bei der Formulierung dieser Bedenken. Das entscheidende Problem ist nicht die «weltweite Untätigkeit» angesichts von Massengrausamkeiten. Das Gegenteil ist der Fall: die intensive Unterstützung des Westens – vor allem der USA – für diese Gräueltaten und die Mitschuld daran.

Dieses Problem wird durch die Ereignisse im Gazastreifen sehr deutlich hervorgehoben. Genau aus diesem Grund wird es nur widerwillig und nur am Rande in die Liste der Bedrohungen des humanitären Völkerrechts aufgenommen. Die USA sind dem sich entfaltenden Völkermord nicht hilflos ausgeliefert. Sie unterstützen ihn aktiv. Israels Völkermord und ethnische Säuberung wären ohne die geheime Zustimmung der USA und ihre aktive Beteiligung nicht möglich.

Das massenhafte Abschlachten von Zivilisten in Gaza findet statt, weil die USA viele der Hochleistungsbomben geliefert haben, die die Hochhäuser in Gaza zerstören und die Kinder töten. Das Gemetzel findet statt, weil die USA Kriegsschiffe in die Region geschickt haben, um benachbarte arabische Staaten und militante Gruppen einzuschüchtern, damit sie ruhig bleiben, während die Zivilisten in Gaza ermordet werden.

Die libanesische Hisbollah zum Beispiel ist durchaus in der Lage, die «weltweite Untätigkeit» zu beenden, indem sie Israel militärisch angreift und die israelische Feuerkraft aus dem Gazastreifen abzieht. Aber vermutlich will niemand in der «internationalen Gemeinschaft» diese Art von «Aktion».

Das Massentöten in Gaza findet statt, weil die USA am vergangenen Freitag [8. Dezember] ihr Veto im UN-Sicherheitsrat eingelegt haben, um einen Waffenstillstand zu verhindern. Es findet statt, weil die USA das Raketenabfangsystem Iron Dome finanziert haben, das die Hamas daran hindert, Raketen auf israelische Gemeinden abzufeuern – was die Zerstörung Gazas durch Israel nur in kleinem Massstab widerspiegelt –, um den politischen Druck in Israel für einen Waffenstillstand zu erhöhen.

Das Gemetzel findet statt, weil Washington jahrzehntelang das israelische Militär mit dem grössten Teil der US-Auslandshilfe unterstützt hat und Israel die palästinensischen Gebiete als profitables Labor für die Erprobung neuer Waffensysteme,2 Überwachungstechniken und Cybertechnologien nutzen lässt.

Friedensgespräche blockiert

Das Problem ist hier sicher nicht «Untätigkeit». Es ist die Tatsache, dass die USA sich aussuchen, wann und wie sie bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Beendigung von Konflikten in der ganzen Welt aktiv sein wollen.

Auf der Liste der Besorgnisse über die Ausbreitung von Gräueltaten fehlt das Leid im Jemen, wo Saudi-Arabien seit Jahren einen völkermörderischen Krieg führt. Im Durchschnitt wurden in den letzten acht Jahren jeden Tag vier jemenitische Kinder3 durch saudische Gräueltaten getötet oder verstümmelt.

Warum wird der Jemen übersehen? Weil die dortigen Gruppierungen als Verbündete des Iran und damit als Feinde des Westens angesehen werden, deren Leben nichts zählt. Weil Riad ein äusserst wichtiger Verbündeter und Öllieferant der USA ist. Und weil die USA und Grossbritannien die Saudis bis zum Äussersten bewaffnet haben, um den Völkermord dort zu begehen.

Ähnliches gilt für die Ukraine. Die grosse Mehrheit der Opfer auf beiden Seiten der Kämpfe hätte vermieden werden können, wenn die Friedensgespräche in den ersten Wochen nach der russischen Invasion nicht von den USA und Grossbritannien blockiert worden wären.4

Diese und andere «Massnahmen» – wie die drohende Ausdehnung der Nato5 bis an die Grenzen Russlands und die Überflutung der Ukraine mit Waffen durch den Westen mit dem falschen Versprechen, die Nato würde Kiew den Rücken stärken – sorgten für einen fast zwei Jahre andauernden Krieg und seine tragische Zahl an Toten.

Wie im Gazastreifen liegt das Problem nicht in der Untätigkeit, sondern in den weit überzogenen Massnahmen der USA und ihrer Lakaien in Europa, die darauf abzielen, Gemetzel und Völkermorde zu unterstützen.

«Ihr müsst gehorchen»

Es gibt jedoch einen Grund, warum die «internationale Gemeinschaft» jetzt Bedenken über «Gräueltaten» äussert, während sie das schlimmstmögliche Gräueltatenverbrechen – den Genozid – in Gaza herunterspielt oder leugnet.

Und zwar deshalb, weil der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober eine Gefahr für die westliche Vorherrschaft in der so genannten «globalen, regelbasierten Ordnung» darstellt. Die Besorgnis gilt nicht wirklich der Zunahme von Massengräueltaten. Der Westen hat kein Problem mit Gräueltaten, wenn er sie selbst begeht oder anderen hilft, sie zu begehen.

Es geht darum, dass es dem Westen immer schwerer fällt, den Rest der Welt durch seine eigenen Gräueltaten schwach zu halten, einzuschüchtern und zu unterdrücken. Die militärischen Misserfolge der USA in Afghanistan, Syrien und der Ukraine – und das wachsende Selbstbewusstsein Russlands und Chinas – markieren neue Grenzen für Washingtons Vormachtstellung.

Die Wahrheit ist, dass der Angriff der Hamas auf Israel – so schrecklich seine Folgen auch waren – für viele derjenigen, die jahrzehntelang unter der Fuchtel oder häufiger unter dem Stiefel der USA und ihrer Verbündeten gelebt haben, als Wegweiser in eine andere Zukunft diente. Sie sehen, dass es möglich ist, selbst als unterdrückte, schwache, missbrauchte Partei dem tyrannischen globalen Hegemon und seinen Handlangern eine blutige Nase zu verpassen.

Was von privilegierten, selbstgefälligen Westlern lediglich als sinnlose, barbarische Gewalt gesehen wird, wird von anderen als Sklavenaufstand verstanden – als ein «Ich bin Spartakus»-Moment.

Das ist auch der Grund, warum – wie nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine – ein grosser Teil der übrigen Welt sich dem selbstgerechten Chor der Empörung und Verurteilung des Westens nicht anschliesst. Sie betrachten diese Bekundungen der Empörung als reine Heuchelei.

Das ist auch der Grund, warum die USA dem völkermörderischen Amoklauf Israels in Gaza so nachsichtig gegenüberstehen. Für Washington geht es nicht darum, Israels Gräueltaten zu stoppen, sondern dafür zu sorgen, dass Israel seine berühmte «Abschreckung» durchsetzt, um denjenigen eine Lehre zu erteilen, die sich andernorts zu einem eigenen Sklavenaufstand inspirieren lassen könnten.

Vor den Kameras ruft die Regierung Biden zur Zurückhaltung auf und drängt Israel, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung zu minimieren. Doch hinter den Kulissen wird sorgfältig abgewogen, wie viel Grausamkeit Israel entfesseln muss, um der nicht-westlichen Welt die richtige Botschaft zu vermitteln: Ihr könnt nicht gewinnen. Ihr müsst gehorchen.

* Jonathan Cook (geboren 1965 in England) ist ein unabhängiger Journalist, Auslandskorrespondent und Autor, der sich auf das Schreiben über den Nahen Osten und den israelisch-palästinensischen Konflikt spezialisiert hat. Cook lebt seit September 2001 in der hauptsächlich von israelischen Arabern bewohnten Stadt Nazareth im Norden Israels.
Er schreibt regelmässig für Al-Ahram Weekly in Kairo, für den Daily Star in Beirut und für das Aljazeera.net. Zuvor war er Mitarbeiter bei den Zeitungen The Guardian und The Observer und hat über den israelisch-palästinensischen Konflikt auch für Le Monde diplomatique und Counterpunch geschrieben. Sein Buch «Blood and Religion» handelt von der Problematik Israels als «jüdischem und demokratischem Staat», sowie von der religiösen Durchdringung der israelischen Politik. Cook verfasste 2007 mit anderen die «One State Declaration», in der eine Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt verworfen und eine Einstaatenlösung gefordert wird. Seine Website und sein Blog sind zu finden unter www.jonathan-cook.net/

Quelle: https://www.declassifieduk.org/the-west-agonises-over-an-atrocity-upsurge-while-backing-israels-genocide-in-gaza/, 11. Dezember 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.theguardian.com/law/2023/dec/08/un-and-us-efforts-to-stop-mass-atrocities-have-waned-activists-warn

2 https://www.aljazeera.com/features/2023/11/17/israels-weapons-industry-is-the-gaza-war-its-latest-test-lab

3 https://www.unicef.org.uk/press-releases/more-than-11000-children-killed-or-injured-in-yemen-unicef/

4 https://responsiblestatecraft.org/ukraine-russia-talks/

5 https://www.middleeasteye.net/opinion/russia-ukraine-us-invasion-paved-how

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