Der Mythos der amerikanischen Demokratie
von Alfred de Zayas*
(9. Dezember 2021) In einer Welt der gefälschten Nachrichten, der gefälschten Geschichte, des gefälschten Rechts und der gefälschten Diplomatie ist es nicht verwunderlich, dass man dabei auch auf gefälschte Demokratie trifft.
Am 22. November berichtete die Washington Post, dass das in Stockholm ansässige International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) in seinem jüngsten Bericht die USA in die Kategorie einer «rückständigen» Demokratie zurückgestuft hat. Aber waren die USA jemals eine «Bastion der globalen Demokratie», wie das IDEA und die Redakteure der Washington Post vorgeben?
In meinen Berichten an die Generalversammlung der Vereinten Nationen und an den Menschenrechtsrat habe ich gesagt, dass Demokratie die Übereinstimmung zwischen dem Willen des Volkes und der Regierungspolitik, die es betrifft, bedeutet. Demokratisches Regieren ist viel mehr als rituelle, regelmässige Wahlen, sondern beinhaltet echte politische Entscheidungen, das Recht des Volkes auf Gesetzesvorschläge, die Anfechtung von Gesetzen und Verordnungen per Referendum sowie die Forderung nach Transparenz und Rechenschaftspflicht der Regierung.
Darüber hinaus ist eine gut informierte Wählerschaft eine Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Das bedeutet, dass es Zugang zu wahrheitsgemässen Informationen und einer Vielzahl von Meinungen geben muss. Dies wird sowohl durch staatliche als auch durch privatwirtschaftliche Manipulation von Nachrichten sabotiert. Noam Chomsky sagte: «Weit davon entfernt, die Demokratie zu fördern, untergraben die US-Medienkonglomerate und die Konzernpresse – einschliesslich der New York Times und der Washington Post – sie, indem sie Zustimmung produzieren.»
Als amerikanischer Bürger wähle ich alle zwei Jahre, aber ich weiss, dass sich unser Zweiparteiensystem als undemokratisch erwiesen hat. Ob ich nun die Republikaner oder die Demokraten wähle, ich bekomme immer das Gleiche, denn beide Parteien sind dem Exzeptionalismus, dem Imperialismus, dem Interventionismus und der Wall Street [=Finanzmacht] gegenüber der Main Street [=Einfache Bürger] verpflichtet. Es ist, als müsste man zwischen zwei Getränken wählen, die fast gleich schmecken, wie Pepsi-Cola und Coca-Cola. Beide Parteien billigen die Tötung von Zehntausenden von Zivilisten mit Drohnen. Beide billigen den Einsatz von Waffen mit radioaktivem abgereichertem Uran. Beide verfolgen Journalisten und Whistleblower, die es wagen, die in unserem Namen begangenen Verbrechen aufzudecken. Beide Parteien sind stark pro-israelisch und anti-palästinensisch. Beide verhängen illegale einseitige Zwangsmassnahmen gegen Länder, die sich nicht an die politischen Befehle von Uncle Sam halten.
Man muss kein Anarchist sein, um zu erkennen, dass unser Establishment die Absicht hat und die Macht besitzt, sich selbst zu verewigen. Natürlich sind die Wähler eingeladen, sich an der Wahl zu beteiligen, welche der beiden Parteien sie unterdrücken soll, aber das ist eine Art Theater, Unterhaltung für die Massen. Milliarden von Dollar werden für den Mythos der demokratischen Wahlen verschwendet, aber wie Emma Goldman und Kurt Tucholsky schon sagten: «Wenn Wahlen etwas ändern würden, würde man sie abschaffen.»
Das Institut IDEA ist intellektuell unehrlich, wenn es sich auf die undemokratischen Neigungen von Donald Trump konzentriert, aber nicht auf die Ursachen der Probleme eingeht, auf das Erbe der Sklaverei und der Diskriminierung, einschliesslich der indigenen Cree, Sioux und Navajo – die «unbesungenen Opfer» der amerikanischen Korporatokratie. IDEA manipuliert, wenn es den «pro-demokratischen Bewegungen» weltweit Beifall zollt – d.h. jenen Gruppen, die meist vom Westen finanziert werden und deren Aufgabe es ist, zu destabilisieren und undemokratische «farbige Revolutionen» und vom Ausland aufgezwungene Regimewechsel zu fördern.
Natürlich gibt es in den USA Aspekte der Demokratie, wie sie auch in China, Russland, Belarus, Kuba und Venezuela existieren. Die Fragen, die IDEA stattdessen stellen sollte, lauten, wie die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Führung öffentlicher Angelegenheiten erleichtert werden kann, wie Frieden und soziale Gerechtigkeit gefördert werden können, wie der Zugang zu Informationen und ein echter «Marktplatz der Ideen» gewährleistet werden kann.
IDEA gehört zu den «Narrativ-Managern», die als Echokammer für das Establishment fungieren. Es geht an der Sache vorbei, wenn es Ungarn, Polen und Slowenien für einen angeblichen demokratischen Niedergang ins Visier nimmt, anstatt sich mit der endemischen Demophobie in den meisten EU-Mitgliedstaaten zu befassen, wo öffentliche Demonstrationen unterdrückt werden – und nicht nur die gegen die Abriegelungen infolge der Pandemie. Offensichtlich misst die IDEA mit zweierlei Mass.
Der demokratische Rückschritt wurde in Frankreich mit der Unterdrückung der «Gelbwesten» sichtbar, in Spanien mit der brutalen Unterdrückung des Selbstbestimmungsreferendums in Katalonien 2017, der Brutalität der Guardia Civil gegen friedliche Wähler, schwangere Frauen, alte Damen, dem Einsatz von Gummigeschossen gegen Bürger, die zur Wahl gehen – ich selbst habe einige dieser Opfer interviewt. Wie kann IDEA über die Existenz politischer Gefangener in Spanien schweigen, deren einziges «Verbrechen» darin besteht, die Umsetzung ihres Rechts auf ein Referendum zu fordern, ein Recht, das durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Artikel 1, 19, 25) geschützt ist?
In zahllosen Resolutionen hat die UN-Generalversammlung anerkannt, dass es kein einheitliches Demokratiemodell gibt, dass Demokratie nicht exportiert werden kann, sondern im eigenen Land entstehen muss, dass jedes Land seinen eigenen Weg finden muss, der mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Grundsätzen der UN-Charta vereinbar ist.
Als UN-Berichterstatter prangerte ich die falschen Prioritäten der zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen an, die offenbar darauf bedacht sind, den Status quo zu erhalten, damit die Reichen reich und die Armen arm bleiben.
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
Quelle: https://news.cgtn.com/news/2021-11-24/The-myth-of-American-democracy-15rGKtOrzhK/index.html,
24. November 2021
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)