«Den Krieg neu denken»

von Stefan Hofer,* Schweiz

Als die russische Armee im Februar 2022 militärisch gegen die Ukraine vorging, nachdem die Ukraine es abgelehnt hatte, über die Forderungen, die Russland gestellt hatte

– Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt

– Keine Stützpunkte der Nato oder anderer fremder Armeen auf dem Territorium der Ukraine

– Keine Stationierung von Nato-Waffen auf dem Territorium der Ukraine

– Entwaffnung der faschistischen Asow-Brigaden

Wahrung der Rechte der russischen Bevölkerung im Donbass durch unverzügliche vollständige Umsetzung der Vereinbarungen im Minsker-Abkommen.1

auch nur zu verhandeln, ging ein Aufschrei durch die westlichen Mainstream-Medien: Der Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung politischer Forderungen ist in der heutigen Zeit ein unglaubliches nicht hinnehmbares Verbrechen.

Stefan Hofer.
(Bild zvg)

Im Brustton der Empörung wurde behauptet, zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg sei in Europa ein souveräner Staat völkerrechtswidrig militärisch angegriffen worden. Die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Nato zur Erzwingung der Abspaltung des Kosovo von Serbien war vergessen.

Tatsache ist jedoch, dass die USA als die Führungsmacht des Westens sowie andere Nato-Staaten seit dem zweiten Weltkrieg zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche und ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen eine ganze Anzahl von Militäreinsätzen durchgeführt und auch mehrjährige Kriege geführt haben, die Millionen von Menschenleben gekostet haben.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist zu verweisen auf den Algerien-Krieg, den Vietnam-Krieg, den Irak-Krieg, die militärischen Interventionen in Syrien und Libyen. Die jahrelange Bombardierung Nordvietnams, der Irak-Krieg und die Bombardierung von Zielen in Serbien, Libyen und Syrien waren völkerrechtswidrig, was die westlichen Mainstream-Medien jedoch kaum gestört hat. Es wurde jeweilen argumentiert, es handle sich um eine militärische Intervention zur Durchsetzung von Menschenrechten. Bezüglich der Bombardierung Serbiens wurde sogar behauptet, diese sei notwendig zur Verhinderung eines Völkermordes an der albanischen Bevölkerung im Kosovo.

Wenn in den Mainstream-Medien über den Krieg in der Ukraine berichtet wird, ist stets vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Rede. In der Berichterstattung über den Irak-Krieg und die Bombardierung serbischer Städte sucht man den Begriff „Angriffskrieg“ vergeblich.

Es ist offensichtlich, dass es in der Wahrnehmung und Beurteilung einen entscheidenden Unterschied macht, ob eine militärische Intervention bzw. ein Krieg von den USA und der Nato oder von Russland geführt wird. In einem Leitartikel der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), die man als wichtiges Sprachrohr des US-geführten Westens bezeichnen kann, schreibt der Chefredakteur Eric Gujer am 10. Februar 2024 unter dem Titel „Den Krieg neu denken“ mit unverschämter Offenheit:

„Lange glaubten die USA und ihre Verbündeten, sie könnten sich Konflikte aussuchen. Der Westen dominierte und intervenierte, wo es ihm gefiel. Das Schlachtfeld hielt wenig Überraschungen für die westlichen Armeen bereit. Sie bestimmten das Tempo und den Ort.“

Damit hat der Chefredakteur der NZZ den Nagel auf den Kopf getroffen. Was die westlichen Mainstream-Medien in Rage bringt, ist nicht die Tatsache, dass in der Ukraine Krieg geführt wird, sondern die Tatsache, dass Russland mit seinem militärischen Vorgehen dem Westen, der einen militärischen Angriff zur Rückeroberung der Krim und der Gebiete im Donbass, die sich als selbständige Volksrepubliken konstituiert hatten, vorbereitete,2 zuvorgekommen ist. Der Krieg war seitens des Westens geplant und die Vorbereitungen waren im Gange. Aber was den Westen erzürnt, ist der Umstand, dass er diese militärisch geführte Auseinandersetzung nicht mehr wie in den Jahren nach 1990 beliebig dominieren kann und die Friedensbedingungen nicht mehr gemäss seinen Interessen diktieren kann, was Ausdruck der seit 1990 veränderten geopolitischen Kräfteverhältnisse ist.

Die westliche kapitalistische Weltordnung, die sich selbst als wertebasiert bezeichnet, wird von den USA als Hegemonialmacht dominiert. Ihr militärisches Machtinstrument ist neben der US-Army die Nato.

Der Weltherrschaftsanspruch des Westens ist seit dem zweiten Weltkrieg immer mit allen Mitteln (Wirtschaftssanktionen und Handelsembargos, massive Beeinflussung von Wahlen, Organisieren, Unterstützen und Finanzieren von Staatsstreichen und als ultima ratio direkter und falls erforderlich brutalster Einsatz von militärischer Gewalt) durchgesetzt worden.

Nach dem Untergang der Sowjetunion glaubten die Weltmachtstrategen der USA und der Nato es bestehe keine ernstzunehmende Gegenmacht mehr, sie könnten nun ihre wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen in der ganzen Welt durchsetzen ohne Einschränkung und Begrenzung durch eine Gegenmacht. Dies war auch die Botschaft des Irak-Krieges und der Bombardierung Serbiens: Wir bestimmen jetzt überall auf der Welt, wo es lang geht, was zulässig ist und was nicht toleriert werden kann.

In den letzten 25 Jahren ist nun aber durch den grossartigen wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China die Hegemonie der USA bereits feststellbar eingeschränkt worden. Dafür stehen die BRICS und die Shanghaier Organisation wie auch die Neue Seidenstrasse.

Die veränderten geopolitischen Kräfteverhältnisse haben zur Folge, dass die Gefahr, dass es zu einem grossen, die ganze Menschheit bedrohenden Weltkrieg kommt, zunimmt, weil die USA versucht sein könnten, das Stärkerwerden der Kräfte, die sich für eine neue multipolare Weltordnung einsetzen, aufzuhalten und rückgängig zu machen, solange sie sich noch für militärisch überlegen halten.

In Anbetracht dieser ernstzunehmenden Kriegsgefahr ist es heute von grösster Wichtigkeit, unabhängig von der weltanschaulichen und religiösen Orientierung die Kräfte, die einen Krieg verhindern wollen, zu sammeln und zu mobilisieren für ein machtvolles Engagement für Abrüstung und gegen Krieg. Eine starke internationale Friedensbewegung gegen Hochrüstung und Krieg tut Not.

Der furchtbare Krieg in der Ukraine muss mit einem sofortigen Waffenstillstand und der unverzüglichen Aufnahme von Friedensverhandlungen gestoppt werden. Das Selenski-Dekret, gemäss welchem die Ukraine keine Friedensverhandlungen führen wird, so lange noch russische Soldaten auf ukrainischem Territorium (einschliesslich der Krim) stehen, muss aufgehoben werden.

Die auf dem Verhandlungsweg zu erreichende Friedensregelung muss auch die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands und die Rechte und den Willen der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim und im Donbass berücksichtigen, was heisst, dass die Ukraine nicht der russlandfeindlichen Nato beitreten darf und auf ihrem Staatsgebiet keine Truppen und Stützpunkte von Nato-Staaten dulden darf und dass die Bewohner der russischsprachigen Gebiete in freier Wahl über ihre Staatszugehörigkeit sollen entscheiden können.

Weitere Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine verlängern der Krieg mit noch mehr Toten und Schwerverwundeten und noch mehr Verwüstungen und Zerstörungen, ohne dass die ukrainische Armee die russische Armee besiegen wird.

* Stefan Hofer, geboren im Jahr 1948, ist Schweizer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Basel. Er hat in Basel während 40 Jahren als Rechtsanwalt gearbeitet. Seit einigen Jahren ist er im Ruhestand.

1 Zur Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine: Stefan Hofer. Schweizer Standpunkt, 16. Januar 2023
https://swiss-standpoint.ch/news-detailansicht-de-international/zum-krieg-in-der-ukraine.html

2 Leo Ensel. Zum Dekret Nr. 117 von Wolodymyr Selensky vom 24. März 2021. Infosperber, 16. Dezember 2022

Zurück