Das katastrophale Erdbeben zwingt alle Seiten zum Umdenken
von Karin Leukefeld,* Beirut
(21. Februar 2023) Der UN-Sicherheitsrat hat sich am Montagnachmittag (NY Ortszeit) [13. Februar] mit der Lage in Syrien befasst. In einem «privaten Treffen» und «nicht-öffentlichen Beratungen» ging es darum, wie möglichst rasch weitere Hilfe in die vom Erdbeben betroffenen Gebiete im Norden Syriens und in die syrische Küstenregion gelangen kann. In einem Vorabbericht des Gremiums, wurden neben einer Chronologie der Ereignisse seit dem 6. Februar 2023 verschiedene Positionen skizziert, die von der syrischen Regierung forderten, weitere Grenzübergänge aus der Türkei in den Nordwesten Syriens zu öffnen.
Tatsächlich wird die Grenze zwischen Syrien und der Türkei bis auf einen Grenzübergang bei Kassab im Westen nicht von Syrien kontrolliert. Sämtliche Grenzübergänge werden von der Türkei und von den mit der Türkei verbündeten bewaffneten Kämpfern kontrolliert.
Westen setzt Damaskus unter Druck
Der UN-Sicherheitsrat solle eine neue Resolution beschliessen, um weitere «ein oder zwei Grenzübergänge» zu öffnen, wie die UN-Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield in einem Interview mit dem US-Sender MSNBC forderte. Unterstützung kam vom Leiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM), António Vitorino. Er sagte dem US-Sender CNN, die Öffnung von mehr Grenzübergängen sei fundamental wichtig für den Erfolg der Hilfsoperationen.1
UNO unter Druck
Die UNO steht unter Druck, den Interessen der reichen westlichen Geberländer zu entsprechen, um von diesen zumindest eine Zusage für die Finanzierung der erforderlichen Hilfsoperationen in Syrien zu erhalten. Die grössten Geber für die humanitäre Hilfe für Syrien sind die USA, Deutschland und die Europäische Union. Diese als «stakeholder» bezeichneten Interessenvertreter wollen möglichst viele Grenzübergänge nach Syrien öffnen, um – entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2672 (9. Januar 2023) – aus dem Ausland Güter in die von bewaffneten Regierungsgegnern kontrollierten Gebiete zu transportieren. Die Sicherheitsratsresolution 2672 wurde am 9. Januar 2023 für 6 Monate verlängert und genehmigt humanitäre Hilfslieferungen über den Grenzübergang Bab al Hawa in den Norden der Provinz Idlib, die von Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird. Die Organisation ist aus der Nusra Front hervorgegangen, dem syrischen Ableger von Al-Qaida im Irak. UNO, Medien, Politik und internationale Hilfsorganisationen sprechen von Hilfe für den «Nordwesten» Syriens.
Die UN-Sicherheitsratsresolution 2672 schliesst aus, dass die syrische Regierung solche Lieferungen genehmigt und kontrolliert. Damit wird de facto die Souveränität Syriens ausgesetzt. Der Streit um diese Frage im UN-Sicherheitsrat hält seit Jahren an. Die syrische Regierung fordert – mit Unterstützung von Russland und China im UN-Sicherheitsrat – seit Jahren ein Ende der «grenzüberschreitenden Hilfe» und bietet an, die Verteilung von Hilfsgütern in alle Landesteile aus Syrien zu organisieren. Die Hilfe in die Erdbebengebiete kann gut über die Flughäfen von Damaskus, Aleppo und Latakia erfolgen. Das lehnen die grossen Geberländer ab, weil damit die Aussetzung der von ihnen gegen Syrien verhängten «einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen» (auch Sanktionen genannt), verbunden wäre.
US-Atomwaffen im Erdbebengebiet in der Türkei
Die Nato hat Hilfe für die Türkei nach dem Erdbeben beschlossen. General Christopher G. Cavoli werde die Operation leiten, hiess es in einer Erklärung (9. Februar 2023). Mehr als 1400 Einsatzkräfte aus mehr als 20 Nato-Staaten und 30 verbündeten Staaten seien im Einsatz, berichtete das US-Militärmagazin «Stars and Stripes». (https://www.stripes.com/theaters/europe/2023-02-08/turkey-earthquake-nato-9074659.html)
Man stehe fest an der Seite des Verbündeten Türkei, erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Die Nato liefert demnach Unterkünfte, die normalerweise als bewegliche Hauptquartiere bei Manövern oder Einsätzen benutzt werden. Sie sollen die bereits gelieferten, winterfesten Zelte «von Alliierten und Verbündeten» ergänzen. (https://reliefweb.int/report/turkiye/earthquake-response-nato-deploy-shelter-facilities-turkiye)
Die Nato verfügt über 24 Militärbasen in der Türkei. Incirlik liegt etwa 10 km von Adana entfernt und beherbergt aktuell rund 2000 US-Soldaten, zivile Angestellte sowie einige Hundert britische Soldaten. Nach US-Angaben sei niemand der Soldaten bei dem Erdbeben verletzt worden. Die Basis wird aktuell für die Erdbebenhilfe benutzt, die Zahl täglicher Starts und Landungen hat sich verdreifacht, die US-Armee verstärkt auch die Lieferungen militärischen Materials. Adana ist die fünftgrösste Stadt der Türkei und ist stark von dem Erdbeben betroffen. Die Militärbasis Incirlik spielt nach Angaben des Pentagon eine «zentrale Rolle bei der Unterstützung von Konflikten im südlichen Nato-Einsatzbereich». Auf dem Stützpunkt sind 50 taktische US-Atomwaffen stationiert. (https://www.military.com/daily-news/2023/02/06/us-reports-no-injuries-incirlik-air-base-after-massive-earthquake-turkey.html)
Weitere Nato-Stützpunkte befinden sich in Kahramanmaras und Gaziantep, in Diyarbakir, Mardin, Sanliurfa und Iskenderun (Marine). Von diesen Stützpunkten ist nicht bekannt, wie stark sie von dem Erdbeben betroffen sind. (https://east-usa.com/us-military-bases-in-turkey.html)
2012 wurden in Adana, Kahramanmaras und Gaziantep von der Nato Patriot-Raketenabwehrsysteme stationiert: Die Niederlande waren in Adana, Deutschland in Kahramanmaras und die USA in Gaziantep stationiert. Der deutsche Einsatz wurde im Januar 2016 beendet.
Karin Leukefeld, Beirut
Hilfslieferungen werden politisiert
In Syrien wird die humanitäre Hilfe seit Beginn des Krieges (2011) mit der UNO und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) abgestimmt. Das ist nicht einfach, weil durch den Krieg im Nordwesten (Idlib, Afrin, Azaz) und im Nordosten (Hasakeh, Rakka) Gebiete entstanden, die unter Kontrolle bewaffneter Regierungsgegner sind, die aus dem Ausland (Türkei, USA u.a.) unterstützt werden. Hilfsoperationen für die in diesen Gebieten lebenden Menschen, darunter viele Inlandsvertriebene wurden und werden politisiert. Für UNO und IKRK ist es in dem Klima nicht leicht, ihre Neutralität zu bewahren.
Nie wurde humanitäre Hilfe für Menschen in Not so sehr politisiert, wie nach dem schweren Erdbeben, das am 6. Februar 2023 weite Gebiete im Südosten der Türkei sowie im Norden Syriens und entlang der syrischen Mittelmeerküste verwüstete. Unmittelbar nachdem das ungeheure Ausmass des Erdbebens deutlich wurde, wandten sich Ankara und Damaskus an die Vereinten Nationen und baten um Hilfe. Die kam aber vor allem in der Türkei an. Bei der Pressekonferenz des US-Aussenministeriums am Tag des Erdbebens fragte ein Journalist den Sprecher Ned Price, ob es nicht eine «grossartige Geste» wäre, wenn die US-Regierung der Syrischen Regierung Hilfe anböte. Und ob es nicht auch eine Geste wäre, «die Sanktionen aufzuheben, die Syrien im Grunde ersticken».
Price antwortete, es wäre «ziemlich ironisch, wenn nicht sogar kontraproduktiv […], wenn wir einer Regierung die Hand reichen würden, die ihr Volk seit nunmehr einem Dutzend Jahren brutal behandelt hat – sie hat es vergast, abgeschlachtet und ist für einen Grossteil des Leids verantwortlich, das es ertragen musste.» Die USA habe «humanitäre Partner vor Ort», die notwendige Hilfe leisten könnten. Diese seien «seit den frühesten Tagen des Bürgerkriegs» aktiv gewesen in Syrien und ihnen werde die USA «erhebliche Mengen an humanitärer Hilfe» zur Verfügung stellen.2
Fast wortgleich äusserte sich die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, die Journalisten in Berlin erklärte, in Syrien, «wo die Menschen unter dem Assad-Regime auf keine Hilfe hoffen können» unterstütze man humanitäre Partner vor Ort und werde weiter «auf einen humanitären Zugang drängen».3
Ein Blick auf die Webseite des Auswärtigen Amtes, wo die Hilfsmassnahmen für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien erläutert werden zeigt, wer diese «humanitären Partner» sind, die von Washington und Berlin mit «erheblichen Mengen» an Hilfe ausgestattet werden sollen. Auf dem Foto sind Mitarbeiter der «Weisshelme» zu sehen, die sich selber «Syrischer Zivilschutz» nennen. In zahlreichen Videos und Interviews gaben sie an, weder die UNO noch die syrische Regierung schickten Hilfe.
Die Regierung in Damaskus stimmte am vergangenen Freitag (10. Februar 2023) der Lieferung von Hilfsgütern in alle vom Erdbeben betroffenen Gebiete zu. Alle Hilfslieferungen innerhalb Syriens werden von UN und IKRK geleitet und gemeinsam mit dem Syrischen Roten Halbmond durchgeführt.4
Am Sonntag (12. Februar 2023) teilte ein UN-Sprecher mit, dass die humanitäre Hilfe aus den Regierungsgebieten in der von Islamisten besetzten Provinz Idlib aufgehalten werde. Die Extremistengruppe Hay'at Tahrir a-Scham (HTS) verweigere die Genehmigung für die Lieferung der Hilfsgüter aus Damaskus.5
Zwei weitere Grenzübergänge für Nothilfe geöffnet
Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths teilte während der UN-Sitzung am Montag mit, der syrische Präsident Bashar al-Assad habe der Öffnung der beiden Grenzübergänge Bab al Salam und al-Rai zugestimmt. Damit wird die Debatte um eine neue Resolution des UNO-Sicherheitsrats vermieden. Die Öffnung ist zunächst auf drei Monate befristet. Der syrische UN-Botschafter Bassam Sabbagh erklärte vor Journalisten in New York, Idlib sei Teil Syriens und die Hilfe müsse bei allen Menschen ankommen. Auf die Frage, warum die Grenzübergänge nicht schneller geöffnet worden seien, verwies Sabbagh darauf, dass Syrien diese Grenze nicht kontrolliere.
Tatsächlich ist die Öffnung von syrisch-türkischen Grenzübergängen seit Monaten Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien. Die Türkei strebt eine Normalisierung mit Syrien an, was von Russland und Iran unterstützt wird. Im Gegenzug verlangt die Türkei von Syrien dessen Unterstützung im Kampf gegen die PKK, die – in der Gestalt der Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ) als bestimmende Kraft der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) im Nordosten Syriens mit Unterstützung der USA eine Art Autonomieregion «Rojava» beansprucht. Die türkisch-syrische Annährung war zuletzt durch die US-Administration in Washington erheblich gestört worden. Bei einem Besuch des türkischen Aussenministers Mevlut Cavusoglu Mitte Januar in Washington hatte US-Aussenminister Blinken Cavusoglu aufgefordert, die «unappetitliche» Annäherung an Syrien aufzugeben. Ein bereits terminiertes Treffen der beiden Aussenminister der Türkei (Cavusoglu) und Syriens (Faisal Mekdad) in Ankara war abgesagt worden. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow lud daraufhin beide Aussenminister ein, sich in Moskau zu treffen.
Das katastrophale Erdbeben zwingt nun alle Seiten zum Umdenken.
* Karin Leukefeld hat Ethnologie sowie Islam- und Politikwissenschaften studiert und ist ausgebildete Buchhändlerin. Sie hat Organisations- und Öffentlichkeitsarbeit unter anderem beim Bundesverband Bürgerini-tiativen Umweltschutz (BBU), bei den Grünen (Bundespartei) und bei der Informationsstelle El Salvador. Sie war auch Persönliche Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten der PDS (Aussenpolitik und Humanitäre Hilfe). Seit 2000 arbeitet sie als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für verschiedene deutsche und schweizerische Medien. Sie ist auch Autorin verschiedener Bücher zu ihren Erlebnissen aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens. |
2 https://www.state.gov/briefings/department-press-briefing-february-6-2023/
4 https://www.aljazeera.com/news/2023/2/10/quake-hit-syria-approves-aid-delivery-to-rebel-held-areas
5 https://www.reuters.com/article/turkey-quake-syria-rebels-idAFS8N33G001