Das falsche Narrativ des Westens über Russland und China

Jeffrey D. Sachs (Foto
Gabriella C. Marino, 2019)

von Jeffrey D. Sachs,* USA

(19. September 2022) Die Welt steht am Rande einer nuklearen Katastrophe, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die politischen Führer des Westens es versäumt haben, die Ursachen der eskalierenden globalen Konflikte offen zu benennen.

Das unerbittliche westliche Narrativ, dass der Westen edel sei, während Russland und China böse seien, ist einfältig und ausserordentlich gefährlich. Es ist ein Versuch, die öffentliche Meinung zu manipulieren und nicht, sich mit der sehr realen und dringenden Diplomatie auseinanderzusetzen.

Das wesentliche Narrativ des Westens ist in die nationale Sicherheitsstrategie der USA1 integriert. Der Kerngedanke der USA ist, dass China und Russland unerbittliche Feinde sind, die «versuchen, die amerikanische Sicherheit und den Wohlstand zu untergraben». Diese Länder seien nach Ansicht der USA «entschlossen, die Wirtschaft weniger frei und weniger fair zu gestalten, ihre Streitkräfte auszubauen und Informationen und Daten zu kontrollieren, um ihre Gesellschaften zu unterdrücken und ihren Einfluss auszuweiten».

Die Ironie besteht darin, dass die USA seit 1980 in mindestens 15 Kriegen im Ausland involviert waren (Afghanistan, Irak, Libyen, Panama, Serbien, Syrien und Jemen, um nur einige zu nennen), während China in keinem und Russland nur in einem (Syrien) ausserhalb der ehemaligen Sowjetunion war. Die USA haben Militärbasen in 85 Ländern, China in drei und Russland in einem (Syrien) ausserhalb der ehemaligen Sowjetunion.

Präsident Joe Biden hat dieses Narrativ gefördert und erklärt,2 dass die grösste Herausforderung unserer Zeit der Wettbewerb mit den Autokratien ist, die «versuchen, ihre eigene Macht auszubauen, ihren Einfluss in die ganze Welt zu exportieren und auszuweiten und ihre repressive Politik und Praxis als effizienteren Weg zur Bewältigung der heutigen Herausforderungen zu rechtfertigen». Die Sicherheitsstrategie der USA ist nicht das Werk eines einzelnen US-Präsidenten, sondern des weitgehend autonomen US-Sicherheitsapparats, der hinter einer Mauer der Geheimhaltung operiert.

Die übersteigerte Angst vor China und Russland wird der westlichen Öffentlichkeit durch Manipulation der Fakten verkauft. Eine Generation zuvor verkaufte George W. Bush Jr. der Öffentlichkeit die Idee, Amerikas grösste Bedrohung sei der islamische Fundamentalismus, ohne zu erwähnen, dass es die CIA war, die zusammen mit Saudi-Arabien und anderen Ländern die Dschihadisten in Afghanistan, Syrien und anderswo geschaffen, finanziert und eingesetzt hatte, um Amerikas Kriege zu führen.

Oder denken Sie an den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1980, der in den westlichen Medien als ein nicht provozierter Akt der Perfidie dargestellt wurde. Jahre später erfuhren wir, dass der sowjetischen Invasion in Wirklichkeit eine CIA-Operation vorausgegangen war, die sowjetische Invasion provozieren sollte!3

Die gleiche Fehlinformation gab es auch in Bezug auf Syrien. Die westliche Presse ist voll von Schuldzuweisungen gegen Putins militärische Unterstützung für Syriens Bashar al-Assad ab 2015, ohne zu erwähnen, dass die USA den Sturz von al-Assad ab 2011 unterstützten, wobei die CIA eine grössere Operation (Timber Sycamore) finanzierte, um Assad zu stürzen, Jahre bevor Russland kam.

Oder vor kurzem, als die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, trotz Chinas Warnungen rücksichtslos nach Taiwan flog, kritisierte kein G7-Aussenminister Pelosis Provokation, doch die G7-Minister kritisierten gemeinsam Chinas «Überreaktion» auf Pelosis Reise scharf.

Das westliche Narrativ über den Ukraine-Krieg ist, dass es sich um einen unprovozierten Angriff Putins handelt, der das russische Imperium wiederherstellen will. Die wahre Geschichte beginnt jedoch mit dem Versprechen des Westens an den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, die Nato werde sich nicht nach Osten erweitern, gefolgt von vier Wellen der Nato-Erweiterung: 1999 wurden drei mitteleuropäische Länder aufgenommen, 2004 sieben weitere, darunter die Schwarzmeerländer und die baltischen Staaten, 2008 wurde die Erweiterung um die Ukraine und Georgien zugesagt, und 2022 Einladung von vier Staats- und Regierungschefs aus dem asiatisch-pazifischen Raum in die Nato, um China ins Visier zu nehmen.

Die westlichen Medien erwähnen auch nicht die Rolle der USA beim Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2014, das Versäumnis der Regierungen Frankreichs und Deutschlands, der Garanten des Minsk-II-Abkommens, die Ukraine zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen zu drängen, die umfangreichen US-Rüstungslieferungen an die Ukraine während der Regierungen Trump und Biden im Vorfeld des Krieges sowie die Weigerung der USA, mit Putin über die Nato-Erweiterung um die Ukraine zu verhandeln.

Natürlich behauptet die Nato, dies sei rein defensiv, so dass Putin nichts zu befürchten habe. Mit anderen Worten: Putin sollte die CIA-Operationen in Afghanistan und Syrien, die Nato-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999, den Nato-Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011, die 15jährige Nato-Besetzung Afghanistans, Bidens «Fauxpas», in dem er die Absetzung Putins forderte4 (was natürlich überhaupt kein Fauxpas war), oder die Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, das Kriegsziel der USA in der Ukraine sei die Schwächung Russlands,5 nicht zur Kenntnis nehmen.

Im Zentrum all dessen steht der Versuch der USA, die Hegemonialmacht der Welt zu bleiben, indem sie ihre Militärbündnisse in der ganzen Welt ausbauen, um China und Russland einzudämmen oder zu besiegen.

Das ist eine gefährliche, wahnhafte und überholte Idee. Die USA haben nur 4,2 Prozent der Weltbevölkerung und nur 16 Prozent des Welt-BIP (gemessen zu internationalen Preisen). Tatsächlich ist das gemeinsame BIP der G7 heute geringer als das der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), während die G7-Bevölkerung nur 6 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, verglichen mit 41 Prozent in den BRICS.

Es gibt nur ein Land, dessen selbsterklärte Fantasie es ist, die dominierende Macht der Welt zu sein: die USA.

Es ist an der Zeit, dass die USA die wahren Quellen der Sicherheit erkennen: den inneren sozialen Zusammenhalt und die verantwortungsvolle Zusammenarbeit mit dem Rest der Welt, und nicht die Illusion der Hegemonie. Mit einer solchen revidierten Aussenpolitik würden die USA und ihre Verbündeten einen Krieg mit China und Russland vermeiden und die Welt in die Lage versetzen, ihre unzähligen Umwelt-, Energie-, Nahrungsmittel- und sozialen Krisen zu bewältigen.

Vor allem aber sollten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in dieser Zeit extremer Gefahren auf die wahre Quelle der europäischen Sicherheit besinnen: nicht auf die Hegemonie der USA, sondern auf europäische Sicherheitsvereinbarungen, die die legitimen Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten respektieren, sicherlich auch die der Ukraine, aber auch die Russlands, das sich weiterhin gegen die Nato-Erweiterung im Schwarzen Meer wehrt. Europa sollte sich darauf besinnen, dass eine Nichterweiterung der Nato und die Umsetzung der Minsk-II-Vereinbarungen diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine verhindert hätten.

In dieser Phase ist Diplomatie, nicht militärische Eskalation, der wahre Weg zu europäischer und globaler Sicherheit.

* Jeffrey D. Sachs ist Professor an der Columbia University, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung in dieser Universität und Präsident des «UN Sustainable Development Solutions Network» (SDSN). Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit SDG-Berater unter Generalsekretär António Guterres.

Quelle: https://www.other-news.info/the-wests-false-narrative-about-russia-and-china, 22. August 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://trumpwhitehouse.archives.gov/wp-content/uploads/2017/12/NSS-Final-12-18-2017-0905.pdf

2 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/12/09/remarks-by-president-biden-at-the-summit-for-democracy-opening-session/

3 https://dgibbs.faculty.arizona.edu/brzezinski_interview

4 https://www.npr.org/2022/03/26/1089014039/biden-says-of-putin-for-gods-sake-this-man-cannot-remain-in-power

5 https://www.washingtonpost.com/world/2022/04/25/russia-weakened-lloyd-austin-ukraine-visit/

Zurück