Chinas und Russlands Beziehungen zu den Taliban rufen die USA auf den Plan

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(16. Februar 2024) Die diplomatische Anerkennung der Taliban-Regierung in Afghanistan am 31. Januar 2024 durch China muss in eine Reihe mit zwei anderen weitreichenden regionalpolitischen Schritten Pekings in der Ära nach dem Kalten Krieg gestellt werden: die Shanghai Five im Jahr 1996 – später, im Jahr 2001, umbenannt in Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) – und die von Präsident Xi Jinping im Jahr 2013 angekündigte Neue Seidenstrasse (Belt and Road Initiative [BRI]).

Es entsteht eine regionale Sicherheitsarchitektur, in der die drei oben genannten Säulen sich gegenseitig verstärken, ergänzen und austauschen, um eine kreative Antwort auf das sich rasch wandelnde internationale Umfeld zu geben. Wenn die SOZ Chinas Rückkehr nach Zentralasien nach fast einem Jahrhundert markiert und die BRI eine massive strategische Vertiefung für Chinas globalen Aufstieg schafft, so hat der Schritt nach Afghanistan geopolitische Merkmale in Bezug auf das asiatische Jahrhundert.

Der chinesische Präsident Xi Jinping (R) nimmt das Beglaubigungsschreiben
des Botschafters der Taliban Regierung in China, Asadullah Bilal Karimi, entgegen,
in der Grossen Halle des Volkes, Peking, 30. Januar 2024. (Bild zvg)

Ganz offensichtlich hat Peking in den letzten Monaten die heimlichen Versuche der USA überlistet, nach ihrer demütigenden militärischen Niederlage und ihrem Abzug im Jahr 2021 nach Afghanistan zurückzukehren. Die Biden-Administration veröffentlichte ein rückdatiertes Dokument1 mit dem Titel Integrierte Länderstrategie für Afghanistan am selben Tag, am 30. Januar, an dem Xi Jinping in der Grossen Halle des Volkes in Peking das Beglaubigungsschreiben des Taliban-Botschafters entgegennahm.

Das Dokument enthielt die folgenden Kernelemente:

  • «Raubmächte wie Iran, China und Russland streben nach strategischen und wirtschaftlichen Vorteilen (in Afghanistan) oder zumindest nach einer Benachteiligung der USA»;
  • «Auch wenn – und solange – die Vereinigten Staaten die Taliban nicht als rechtmässige Regierung Afghanistans anerkennen, müssen wir funktionierende Beziehungen aufbauen, die unsere (amerikanischen) Ziele erfüllen»;
  • «Bei den Diaspora-Afghanen raten wir von der Unterstützung eines neuen bewaffneten Konflikts durch Stellvertreter von Widerstandsgruppen in Afghanistan ab – mehr Gewalt oder ein Regimewechsel ist keine Lösung für die Taliban»;
  • «Wir müssen gleichzeitig noch nie dagewesene Mengen an humanitärer Hilfe in das Land pumpen, die Taliban davon überzeugen, internationale Wirtschaftsnormen zu übernehmen, und uns unermüdlich für die Bildung einsetzen»;
  • «Wir setzen uns bei den Taliban für einen konsularischen Zugang ein […]».

Das Dokument ist ein beschämender Rückzug von der donnernden US-Rhetorik, dass Washington die Regierung in Kabul ächten und ihre Bankkonten einfrieren würde, wenn die Taliban ihre Bedingungen nicht erfüllten. Offensichtlich besteht die Regierung Biden nicht mehr auf ihren Forderungen und klopft an die Tore Kabuls, um Einlass zu erhalten.

Interessanterweise wird in dem Dokument zwar die Menschenrechtslage in Afghanistan und das Fehlen einer Regierung mit breiter Basis in Kabul festgehalten, doch wird eingeräumt, dass ein Regimewechsel nicht mehr in Frage kommt. Es ruft die Diaspora-Afghanen (die sich grösstenteils im Westen aufhalten) dazu auf, sich mit der Regierung in Kabul zu versöhnen, und fordert eine konsularische Präsenz der USA in Afghanistan.

Die USA sind nervös wegen des russischen und chinesischen Vorgehens gegenüber der Taliban-Regierung. Es ist denkbar, dass wir die Einladung der USA an den pakistanischen Armeechef, General Asim Munir, zu einem fünftägigen Besuch in Amerika Ende Dezember und zu Gesprächen mit hochrangigen Beamten, darunter Aussenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister General Lloyd Austin, überdenken müssen. Wenn man noch weiter zurückgeht, muss man auch den Sturz des ehemaligen pakistanischen Premierministers Imran Khan2 («Taliban Khan») durch das Militär mit amerikanischer Unterstützung in den Kontext einordnen. Die Rolle Pakistans wird in dem Masse entscheidend, wie sich die zentralasiatischen Staaten mit Russland und China angleichen. (Siehe meinen Blog «Decoding Iran's missile, drone strikes»,3 Indian Punchline, 18. Januar 2024)

Da Russland und China die amerikanischen Bestrebungen spüren, nach Zentralasien zurückzukehren und das Grosse Spiel neu zu starten, sind sie entschlossen, der Taliban-Regierung zwei Schritte voraus zu sein. Die diplomatische Anerkennung der Taliban-Regierung durch China ist mit Sicherheit mit Russland abgestimmt. Am selben Tag, an dem Xi Jinping das Beglaubigungsschreiben des Taliban-Botschafters erhielt, besuchten die Sondergesandten Russlands und Chinas Kabul und nahmen an einem von der Taliban-Regierung einberufenen Treffen unter der Überschrift «Regionale Kooperationsinitiative» teil, an dem Diplomaten aus Russland, China, Iran, Pakistan, Indien, Usbekistan, Turkmenistan, Kasachstan, der Türkei und Indonesien teilnahmen. Der amtierende Aussenminister der Taliban, Amir Khan Muttaqi, ergriff auf dem Treffen das Wort.

Die chinesische Entscheidung, die Taliban-Regierung anzuerkennen, kann jedoch nicht durch das Prisma des Grossen Spiels betrachtet werden. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist China bereits ein wichtiger Akteur in Afghanistan, und sein Anteil wächst. Ausserdem ist Kabul ein begeisterter Befürworter der «Belt and Road»-Initiative, und möglicherweise ist Afghanistan für China ein weiteres Tor zur Golfregion und darüber hinaus. China plant eine direkte Strassenverbindung zwischen Xinjiang und Afghanistan über den Wakhan-Korridor.4

Endlich beginnen auch die Bauarbeiten für das fehlende Glied der Eisenbahnlinie China–Kirgisistan–Usbekistan5 – ein neues strategisches eurasisches Logistiknetz entlang der Neuen Seidenstrasse, das Afghanistan sowohl mit China als auch mit dem europäischen Markt verbinden kann.

Die geopolitische Bedeutung der Normalisierung des Verhältnisses zwischen China und Afghanistan ist in der Tat in der gegenwärtigen Weltlage global zu messen. Eine freundliche Regierung in Kabul gibt China eine enorme strategische Tiefe, um die feindlichen Schritte der USA im asiatisch-pazifischen Raum zurückzudrängen.

Unterm Strich knüpft China formale Beziehungen zu einer militanten islamistischen Bewegung, die einst Osama bin Laden beherbergte, und das zu einer Zeit, in der die USA die Widerstandsbewegungen im muslimischen Nahen Osten dämonisieren und eine bösartige, langwierige Kampagne gegen sie in Syrien, Irak und Jemen entfesseln. Natürlich werden sich die Widerstandsbewegungen im muslimischen Nahen Osten von Chinas Beispiel inspirieren lassen.

Ebenso ist die Teilnahme von 9 regionalen Staaten – insbesondere Indonesien und Indien – an dem von der Taliban-Regierung in Kabul veranstalteten regionalen Treffen eine Bestätigung des asiatischen Jahrhunderts. In seiner Rede auf dem Treffen in Kabul betonte Taliban-Aussenminister Muttaqi, dass diese Länder «regionale Dialoge führen sollten, um die positive Interaktion mit Afghanistan zu verstärken und fortzusetzen». Muttaqi forderte die Teilnehmer auf, die sich in Afghanistan bietenden Chancen für die Entwicklung der Region zu nutzen und auch «den Umgang mit potenziellen Bedrohungen zu koordinieren».

Er betonte die Notwendigkeit positiver Interaktionen mit den Ländern der Region und forderte die Diplomaten auf, die Botschaft der Taliban von einer «auf die Region ausgerichteten Initiative» in ihre Länder zu tragen, damit Afghanistan und die Region gemeinsam die neuen Chancen zum Nutzen aller nutzen können. In afghanischen Medienberichten wurde Muttaqi mit den Worten zitiert, dass es bei dem Treffen vor allem um die Erörterung eines «auf die Region ausgerichteten Narrativs» gegangen sei, das darauf abziele, die regionale Zusammenarbeit für ein positives und konstruktives Engagement zwischen Afghanistan und den Ländern der Region zu entwickeln. (hier)6

Zweifellos hat China nun den Weg gewiesen, dass die Ära des Imperialismus für immer begraben ist und die ehemaligen Kolonialmächte erkennen sollten, dass ihre zweifelhaften Methoden des «Teile und herrsche» nicht mehr funktionieren.

Die Integrierte Länderstrategie des US-Aussenministeriums für Afghanistan ist im Grunde genommen alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, hoffen die USA, ihre interventionistische Politik in Afghanistan aus geopolitischen Gründen wiederzubeleben, während sie Krokodilstränen über die Menschenrechtslage vergiessen. Ihr strategisches Kalkül ist eine morbide Mischung aus Geopolitik und Neo-Merkantilismus.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Taliban darauf hereinfallen, da sie Zeuge der US-Bombardierungskampagne gegen muslimische Nationen in industriellem Massstab sind, die auf die zwei Jahrzehnte lange westliche Besetzung Afghanistans zurückgeht.

Das rückdatierte Dokument der Amerikaner ist eine Kurzschlussreaktion der Biden-Administration, als bekannt wurde, dass Peking mit aktiver Unterstützung Moskaus eine diplomatische Anerkennung der Taliban-Regierung anstrebt, um eine Brandmauer zu errichten, die eine weitere Manipulation der Lage in Afghanistan durch den Westen verhindern soll. Auch wenn Moskau die Taliban nicht direkt anerkennt, so hat es doch eine wichtige Rettungsleine für Kabul gespannt.

Es war kein Zufall, dass Xi Jinping den neuen Taliban-Botschafter in der Grossen Halle des Volkes in Peking am selben Tag empfing, an dem die Taliban-Regierung ihre regionale Initiative vorstellte.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline». (Weitere Informationen zu seiner Person: siehe Kasten am Ende des Textes.)

Source: https://www.indianpunchline.com/china-russia-pip-us-to-the-taliban-hearth/, 6 February 2024

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/01/ICS_SCA_Afghanistan_14NOV2023_PUBLIC.pdf

2 https://www.cfr.org/blog/pakistans-opposition-leader-imran-khan-jailed-election-looms

3 https://www.indianpunchline.com/decoding-irans-missile-drone-strikes/

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Wachankorridor

5 https://www.lowyinstitute.org/the-interpreter/full-steam-ahead-china-kyrgyzstan-uzbekistan-railway

6 https://www.hindustantimes.com/india-news/india-among-10-countries-to-participate-in-meeting-convened-by-taliban-in-kabul-101706549349569-amp.html

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