Selma tobt

Lernen fällt nicht immer leicht. (Bild keystone/Westend61/Sandra Roesch)

Das Drama des unverstandenen Kindes

von Marita Brune-Koch

(14. April 2022) Selma, 7 Jahre alt, hört nicht, was die Lehrerin sagt, sie bockt und schreit, wirft Stifte und andere Schreibutensilien durch die Klasse. Kein Zureden hilft, weder von der Lehrerin, noch von den Eltern. Die Lehrerin findet keinen Zugang zu ihr, der Schulpsychologe wird zugezogen, der diagnostiziert eine frühkindlichen Autismusstörung. Den Eltern wird vorgeschlagen, Selma zur stationären Behandlung in die Psychiatrische Klinik zu überweisen.

Was ist los mit Selma, mit der Familie, mit der Schule?

Selma ist ein aufgewecktes Kind. Sie ist ehrgeizig und lernbegierig. Ihre Leistungen sind gut. In ihrer Familie ist sie gut aufgehoben, der Umgang ist liebevoll, die Eltern schauen für ihre Kinder. Die ältere Schwester ist ruhiger und braver, macht ihre Sache. Nur Selma «macht Probleme».

Es stellt sich heraus, dass sie auch zu Hause manchmal «schwierig» ist. Auf die Mutter hört sie nicht beim ersten Mal, vieles muss man ihr öfter sagen. Oft ist sie stur. Wenn es nicht nach ihrer Nase geht, schreit sie herum, bockt und kooperiert nicht. Allmählich schält sich heraus, dass sich bei Selma in der Beziehung zu ihrer Mutter und den anderen Familienmitgliedern Irritationen herausgebildet haben: Selma will alles sofort können und wissen. Sie will nicht lernen müssen. Wenn sie etwas nicht sofort versteht und kann, wird sie wütend, schreit herum und verweigert die weitere konstruktive Arbeit.

Dabei ist sie sehr fleissig: Sie kann sich stundenlang konstruktiv und friedlich beschäftigen, bastelt, baut etwas, denkt sich etwas aus. Dem Vater hilft sie auch gern bei praktischen Tätigkeiten, mit Eifer, Ausdauer und Gründlichkeit. Aber sie erträgt es nicht, wenn sie etwas nicht sofort versteht und kann.

Ihre Mutter hat ihre Abwehr nicht einordnen und verstehen können, sie hat stets mit viel Zureden reagiert, vieles in der Familie hat sich dann um «Selma’s Theater» gedreht. So hat sie dieses irritierte und untaugliche Verhalten eingeübt und ausgebaut und wendet es nun auch in der Schule an, stösst dort aber an Grenzen.

Lebensstil verstehen lernen

Dieses Verhalten ist Teil von Selmas «Lebensstil» geworden, würde Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, sagen. Er hat postuliert, dass jedes Kind danach strebt, seine natürliche Unterlegenheit, seine Schwäche zu überwinden, es strebt nach Aufmerksamkeit und Anerkennung seiner Mitmenschen und möchte sich in der Gemeinschaft Geltung verschaffen.

In Selmas Fall kann man vermuten, dass sie sich erhofft, sich mit sofortigem Können und Verstehen einen Platz zu verschaffen. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Lisa erweckt oft den Eindruck, ohne Lernen zu guten Noten zu kommen. Selma kann nicht wissen, dass das unmöglich ist, dass jeder lernen muss, um etwas zu können und zu wissen. Doch die Eltern bewundern es, dass Lisa alles «aus dem Handgelenk schüttelt». Da liegt es nahe, dass Selma auch glaubt, das können zu müssen. Sie verzweifelt, wenn das nicht funktioniert.

Nach Adler probieren Kinder verschiedene Verhaltensweisen aus, um Geltung, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Es sieht so aus, als ob Selma mit ihrer Toberei versuchen würde, von ihren vermeintlichen Misserfolgen abzulenken. Wahrscheinlich glaubt sie, sie sei unfähig, wenn sie etwas nicht sofort versteht. Von dieser Schmach will sie möglicherweise mit ihrer Toberei ablenken.

Dieses Verhalten führt zu «Erfolg», denn Lehrer und Eltern beschäftigen sich nur noch mit dem Verhalten; Schulpsychologen, Heilpädagogen, Psychiater, alle sehen nur noch ihre Verhaltensauffälligkeiten und beschäftigen sich damit. In diesem Sinne ist Selmas Verhalten durchaus von Erfolg gekrönt.

Verhalten, das zu «Erfolg» führt wird, wie Adler festgestellt hat, beibehalten und ausgebaut. Es wird zum «Lebensstil» mit oft fatalen Folgen. Nach Adler ist es die Aufgabe von Eltern und Lehrern, solche irritierten Verhaltensweisen zu erkennen, zu verstehen und liebevoll aber konsequent zu korrigieren.

Gemeinsam geht’s besser. (Bild keystone/ Photoalto/Michele Constantini)

Moderne Schulführung lässt Kinder im Stich

Leider leistet in diesem Fall die Art der Schulführung der irritierten Entwicklung noch Vorschub: In Selmas Klasse ist selbständiges Lernen angesagt. Die Kinder bekommen ihren Wochenplan und Arbeitspläne und sollen sich alles selber erarbeiten. Natürlich dürfen sie die Lehrerin auch fragen aber – der Leser ahnt es – was macht ein Kind, das von sich erwartet, alles sofort und ohne Hilfe können zu müssen, andernfalls es dumm sei?

In einer Klasse hingegen, in der das Lernen zum grössten Teil im Klassenunterricht geführt wird, wo alle gemeinsam lernen, wo die Lehrerin in den Stoff einführt oder ihn mit den Kindern gemeinsam erarbeitet, ist ein Kind nicht auf sich gestellt. Die Frage, ob es etwas kann oder nicht, stellt sich nicht so scharf. Es hat ja Gelegenheit, mit den anderen mitzudenken, von den Fragen und Beiträgen der anderen mitzulernen. Es erlebt dann auch, dass alle lernen, dass es etwas Schönes ist, zu lernen.

Selmas Problem hätte damit sehr gemildert werden können, ihre Lernlaufbahn hätte relativ leicht in eine andere Richtung gelenkt werden können.

Einblick in die kindliche Persönlichkeit

Hilfreich wäre es auch, wenn die Lehrerin einen Einblick in die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit hätte. Sie müsste wissen, dass alle Kinder gerne lernen, dass es ihnen bedeutsam ist, gute Leistungen zu erbringen, einen Platz und Geltung in der Gemeinschaft zu haben.

Wenn Kinder sich scheinbar entgegen diesem Wunsch verhalten, muss die Lehrerin schauen, wo sie entmutigt sind, sich die Erreichung dieser Ziele nicht mehr zutrauen.

In ihrer Ausbildung hätte sie erfahren müssen, dass Kinder ihre Erlebnisse mit Eltern und Geschwistern und später mit den «G’spänli» in der Schule und der Lehrerin interpretieren. Sie ziehen aus ihren Interpretationen Schlüsse, wie sie selber gesehen werden, welchen Platz sie einnehmen und wie sie am besten zur Geltung kommen können – und dass sowohl die Interpretationen als auch die Schlüsse daraus fehlerhaft sein können.

Die Kinder entwickeln einen eigenen «Lebensstil», das heisst einen Weg, wie sie glauben, mit den Schwierigkeiten, die ihnen begegnen, am besten fertig werden zu können. Oft ist es gar nicht so schwierig, einem Kind aus seinen fehlerhaften Verhaltensweisen herauszuhelfen, wenn man versteht, weshalb das Kind sich so verhält, welche Einschätzung von sich und der Welt seinem Verhalten zugrunde liegt und wie das Kind glaubt, sich darin behaupten zu können.

Wenn es sich verstanden fühlt, ist eine Korrektur oft ein leichtes. Die Kinder lassen sich gerne anleiten, wenn sie erkennen, dass es anders besser geht, sie dann leichter und schöner zu ihrem Ziel kommen. Manchmal, so auch in Selmas Fall, bräuchte es die innere Sicherheit der Eltern und der Lehrerin.

Von den Tobereien dürften sie sich nicht so beeindrucken lassen, stattdessen ruhig und mit sicherer Hand das Kind beim Lernen anleiten, es ermutigen. Vielleicht auch hin und wieder darüber sprechen, wie man lernt, dass es unmöglich ist, alles «einfach so» zu können.

Gespräche über solche Themen sind oft am fruchtbarsten in einer Klassengemeinschaft, wo alle mitdenken, alle gemeint sind, und wo niemand als «Problemfall» zur Debatte steht. Überhaupt ist die Bedeutung der Klassengemeinschaft nicht hoch genug einzuschätzen: Hier können Kinder lernen, sich in der Gemeinschaft zu finden, sich einzufühlen in andere, sich selbst als bedeutsam zu erleben, indem sie Anteil nehmen an den anderen und mithelfen zum Gelingen des Ganzen. Auf eine gute Klassengemeinschaft zu verzichten ist ein pädagogisches «Kapitalverbrechen».

Entmutigung, ungünstigem Verhalten, falschen Sichtweisen kann in einer gelebten Klassengemeinschaft auf eine Art entgegengewirkt werden, wie es eine Lehrerin allein niemals könnte, wie es auch eine Psychologin in einer Therapie nicht bewirken könnte. Eine «vertraute und jedem Kind Rückhalt gebende Klassengemeinschaft»1 muss natürlich von der Lehrerin oder dem Lehrer in Zusammenarbeit mit den Kindern entwickelt werden.

Die Pädagogin muss die Natur der Kinder verstehen, sie muss verstehen, was Kinder antreibt, was sie brauchen, sie muss wissen, wie Erziehungseinflüsse auf das Kind wirken aber auch deren «schöpferische Kraft» kennen.

Mit diesem Begriff kennzeichnet Adler die menschliche Fähigkeit «stärker noch dessen Willen, sich den Lauf seines Lebens nicht durch negative, entmutigende Erfahrungen diktieren zu lassen, sondern diese mit individueller, schöpferischer Kraft zu überwinden.»2

Falsches Paradigma: ein biologistisches Menschenbild

Die gute Botschaft: Lehrer können das lernen. Man ist nicht ein guter Lehrer, man wird ein guter Lehrer – wenn man gute Ausbilder hat.

Die schlechte Nachricht: Heutige Lehrerausbildungen sehen das Studium dieser elementaren Kenntnisse der kindlichen Seele nicht vor. Die Lehrer lernen in ihrer Ausbildung viel Sinnvolles über Didaktik und Methodik aber sie lernen schlicht nicht, was Kinder antreibt, wie sie sich fühlen, was zu Verhaltensauffälligkeiten führen kann, und wie man den Kindern behilflich sein kann, sich in der Schule, unter den Gleichaltrigen und in der Welt der Menschen zurechtzufinden.

Stattdessen lernen die angehenden Pädagogen genau das, was Selmas Lehrerin gemacht hat: Bei Schwierigkeiten sofort die «Experten» rufen. Aber die haben es oft auch nicht gelernt, in deren Ausbildung kommt Tiefenpsychologie auch kaum vor.

Stattdessen wird heute überwiegend ein biologistisches, mechanistisches Bild vom Kind vertreten: Verhaltensanomalien werden je nach Symptomatik wahlweise unter Autismus-Spektrum-Störung (Autismus, Asperger), ADS, ADHS und ähnlichen Etiketten eingeordnet und schubladisiert. Die Kinder bekommen Medikamente und sollen lernen, mit ihren «Einschränkungen», «Besonderheiten» zu leben.

Manchmal soll auch die Umwelt lernen, mit den Auffälligkeiten der Kinder zu leben, es wird gefordert, dass sich Lehrer und Mitschüler den merkwürdigsten Verhaltensweisen anpassen. Geholfen ist so niemandem: Weder den betroffenen Kindern und ihren Familien noch den Lehrern und den Schulkameraden.

So haben wir oft das traurige Bild, dass Pädagogen und andere Fachleute – obwohl sehr bemüht – gar nicht recht hinschauen und hinhören, wie es den Kindern wirklich geht. Sie verstehen oft nicht, was das Kind bewegt, wie es in ihm ausschaut. Man glaubt, im Gehirn, im Stoffwechsel oder sonst irgendeinem körperlichen Vorgang läge die Ursache für das Verhalten. Es wird eine Menge Geld ausgegeben für Abklärungen, Therapien, Spezialeinrichtungen. Aber geholfen ist damit den Kindern selten.3

ISBN 978-3-579-06882-4

Es gibt Hoffnung: Die Individualpsychologie lebt

Aber es gibt auch Ausblicke. Im Wien der 1930er Jahre hat Adler ein breites System von Erziehungs- und Lehrerberatungsstellen aufgebaut. In der gesamten Schülerschaft dieser Jahre haben sich diese Einrichtungen sehr segensreich ausgewirkt. So ging zum Beispiel die Jugendkriminalität in Wien, damals ein gravierendes Problem, signifikant zurück.

Im Faschismus wurde das gesamte erfolgreich arbeitende Netz zerschlagen, die Psychologen, Berater und Lehrer, die nach individualpsychologischen Methoden arbeiteten, waren gezwungen, sich anzupassen, oder, wie Adler selbst, zu fliehen.

Heute aber wird die Individualpsychologie wieder aufgegriffen, vereinzelt zwar, aber umso mutiger und freudiger. Michael Felten, Pädagoge und Publizist in Köln, arbeitet schon lange in dieser Richtung, führt Lehrerfortbildungen durch und publiziert pädagogische Fachbücher. Sein Buch, «Auf die Lehrer kommt es an. Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule»4 ist eine wohltuende Lektüre für jeden Pädagogen. Er hat eine wunderbare, übersichtliche Website zum Wirken und zur Lehre Alfred Adlers gestaltet. Hier kann der Interessierte sich auf ansprechende Art in die Individualpsychologie vertiefen (http://alfred-adler-panorama.info/).

ISBN 978-3-7799-6018-8

Im Norddeutschen Raum lehrt Beate Letschert-Grabbe, eine Lehrerausbildnerin auf der Grundlage der Individualpsychologie erfolgreich Lehrer und Lehrerinnen, wie sie ihren Schülern besser gerecht werden können. Ein aktuelles Buch von ihr sei an dieser Stelle empfohlen.5

Wir leben in einer Zeit, wo die Kinderpsychiatrien dem Ansturm hilfsbedürftiger Kinder und Jugendlicher kaum entsprechen können. Da wäre es doch endlich angebracht, sich auf diese für Kinder, Eltern, Familien und Lehrer so wertvolle und segensreichen Erkenntnisse zu besinnen und Pädagogen zu lehren, Pädagogen zu sein. Gute Entwicklungen vieler Selmas wären der Dank dafür.

1 Letschert-Grabbe, Beate. Das übersehene Kind. Wenn ‹Super› zu wenig und Verwöhnen Vernachlässigen ist. Weinheim/Basel 2021, S. 253

2 Ebd. S. 216

3 Einrichtungen wie Schulpsychologische und kinderpsychiatrische Dienste, psychosoziale Beratungsstellen Dienste usw. haben durchaus ihre Berechtigung und es gibt Fälle, wo es nötig und sinnvoll ist, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Autorin wendet sich in erster Linie gegen die geradezu reflexartige Inanspruchnahme dieser Einrichtungen in zahlreichen Fällen, wo ausgebildete Lehrer den Kindern sehr gut helfen könnten.

4 Felten, Michael. Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule. Gütersloh 2013

5 Letschert-Grabbe, Beate. Das übersehene Kind. Wenn ‹Super› zu wenig und Verwöhnen Vernachlässigen ist. Weinheim/Basel 2021

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