Schweizer Schulsystem am Limit – Verlierer auf allen Seiten
Persönlicher Bericht einer Lehrerin
von Vanessa Pestalozzi,* Schweiz
(18. Oktober 2023) Viel Zeit und Geld, Energie und Personal wird in die schulische Integration von verhaltensauffälligen Kindern oder von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gesteckt. Ein Heer von Fachleuten kümmert sich um sie. Für Kinder ohne besondere Bedürfnisse und ohne Verhaltensauffälligkeiten bleibt da nicht mehr viel übrig an Zeit und Energie; die Integration «um jeden Preis» geht meistens auf ihre Kosten. Und auf Kosten der Lehrperson, welche die Sondersettings koordinieren darf.
1 – Abdul
Ist Abdul einmal krank, geht ein Aufatmen durch die Klasse, Erleichterung macht sich breit, dies wird ein schöner Tag. Die ganze Kindergruppe entspannt sich, die Kindergärtnerin ebenfalls. Abduls Wutausbrüche sind gefürchtet, die Heilpädagogin muss dann schnell eingreifen und Abdul davon abhalten, andere Kinder zu beissen und zu boxen oder mit Bauklötzen um sich zu werfen. Abdul schreit auf hoher Frequenz und lässt sich kaum bändigen. Die Heilpädagogin verlässt mit Abdul, der um sich schlägt, den Klassenraum und geht ins Nebenzimmer. Alle sind froh.
Im Nebenraum beruhigt sich Abdul schnell wieder, er hat die gesammelte Aufmerksamkeit der Heilpädagogin, sie streicht ihm über den Rücken, und er spielt mit Lego. Wird Abdul nach einiger Beruhigungszeit wieder im Klassenraum integriert, kann er innerhalb von Sekunden erneut zum Berserker werden, und das Ganze beginnt von vorne.
Abdul hat einen ISR-Status (integrierte Sonderschulung in der Verantwortung der Regelschule) und Anspruch auf heilpädagogische Betreuung und Integration in einer Regelklasse. Für Abdul werden Förderdiagnostiken erstellt und Förderpläne geschrieben, Standortgespräche werden geführt und Abmachungen unterzeichnet.
2 – Das Standortgespräch
Am Kopfende eines langen Tisches sitzen Abduls Mutter und die Dolmetscherin. Sein Vater hat Rayonverbot, er darf sich seinem Sohn nicht nähern. Falls der Vater doch einmal vor dem Kindergarten stehen würde, dann lautet die Devise, die Polizei zu rufen.
Am gleichen Tisch sitzen die Kindergärtnerin, die Schulleitung und das ganze Sondersetting, welches um Abdul (und weitere Kinder) herum aufgebaut ist, bestehend aus: DaZ-Lehrperson (Deutsch als Zweitsprache), Psychomotorik-Therapeutin, IF-Lehrperson (integrative Förderung/schulische Heilpädagogin), Logopädin und Schulpsychologe.
Die «Elefantenrunde» zieht sich in die Länge, jeder und jede hat etwas zu Abdul und seinem Verhalten zu sagen, die Dolmetscherin übersetzt, die Mutter nickt. Dann spricht die Mutter, die Dolmetscherin übersetzt, alle nicken. Schwierige Verhältnisse, ja, wir kennen das und haben auch viel Verständnis dafür. Abdul braucht eine Eins-zu-eins-Betreuung, dessen sind sich alle einig.
Viel Gewichtiges wird gesagt, protokolliert und in die Förderplanung von Abdul aufgenommen. Der Schulpsychologe ist der Meinung, dass Abdul nochmals abgeklärt werden soll und dass ihm eine Spieltherapie eventuell guttun würde. Alle nicken erschöpft. Am Schluss werden Abmachungen unterzeichnet, es wird festgehalten, was in wessen Verantwortung liegt:
Beispielsweise liegt es in der Verantwortung der Mutter, dass Abdul morgens nicht stets im gleichen Trainingsanzug erscheint, sondern auch mal «richtig» angezogen. Es liegt auch in der Verantwortung der Mutter, dass Abdul lernt, auf die Toilette zu gehen, diesbezüglich sind sich alle einig.
In der Verantwortung des KindergartenTeams, vor allem der Heilpädagogin, liegt es unter anderem, dass Abdul soziales Verhalten in kleinen Schritten lernt, das Fernziel heisst Impulskontrolle. (Wie erkennt man, dass Abdul sein Förderziel erreicht hat? «Er kann mit anderen Kindern spielen, ohne beim geringsten Anlass auszuticken.»)
Ebenfalls in der Verantwortung der Heilpädagogin liegt es, eine neue Förderplanung für Abdul zu schreiben, bestehend aus Beobachtungen, Kompetenzen, Hypothesen, Entwicklungszielen und deren Umsetzung in der Praxis.
Jede Abmachung wird von der Dolmetscherin übersetzt und von der Mutter hastig unterzeichnet. Sie wirkt, als würde sie am liebsten davonrennen, niemand kann es ihr verdenken.
Dann wird ein Termin für ein neues Standortgespräch festgelegt, möglichst bald, wir müssen Abdul «engmaschig begleiten», wir müssen «dranbleiben, hinschauen und transparent kommunizieren». Alle sollen stets auf dem Laufenden bleiben, was Abduls Entwicklungsschritte anbelangt. Dies ist Aufgabe der Kindergarten-Lehrperson.
3 – Die Kindergärtnerin
Sie hat nicht nur über zwanzig andere Kinder zu unterrichten und je nach Reife zu fördern, sie hat nicht nur unzählige Elterngespräche zu führen – nein, sie darf auch das ganze Sondersetting um Abdul herum koordinieren: Absprachen mit der Logopädin, Sitzungen mit der Heilpädagogin, Telefonate mit dem Schulpsychologen, mit dem Schulsozialarbeiter, mit der Schulleiterin; Sitzungen mit dem Schulteam und Mitarbeitergespräche führen mit der Klassenassistentin.
Dazu kommen noch die Aufgaben, die sie zusätzlich zu erfüllen hat (Lehrplan 21 sei Dank): Mitarbeit in diversen Projektgruppen, Mitorganisation von Schulsporttagen und Elternabenden, Geschenke einkaufen und Karten schreiben für Kolleginnen und Kollegen, die Geburtstag feiern, sich pensionieren lassen oder frisch geboren haben, Snacks für Teamsitzungen bereitstellen und so weiter. Wenn sie ihr Tagessoll erfüllt hat, ruft bestimmt noch eine Mutter an, die ihr erzählt, dass ihr Kind Angst hat vor Blerim oder Abdul und deshalb nicht mehr in den Kindergarten möchte, was sie tun könne, was sie ihr raten würde…
4 – Blerim
Blerim ist stark verhaltensauffällig, hat aber noch keinen «Status», sondern wird erst abgeklärt. Er spielt in seiner Freizeit Shooter-Games und möchte gerne alle «totmachen», welche sich ihm in die Quere stellen. (Dass es schwierig ist, Blerim für Osterhasen-Geschichten zu erwärmen, versteht sich von selbst.) Vor kurzem ist Blerim mit einem Klappmesser im Kindergarten erschienen, sein älterer Bruder hat es ihm gegeben. Grosses Entsetzen überall; Elterngespräche, Standortgespräche, Abklärungen beim Psychologen und Vereinbarungen mit dem Schulsozialarbeiter. Viele Abmachungen wurden unterzeichnet.
5 – Die Klasse
Jede Kindergartenklasse, zumindest in der Agglomeration Zürich, hat einen Abdul und einen Blerim. Die Namenswahl ist nur politisch nicht korrekt. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund aus bestimmten Regionen überdurchschnittlich viele Probleme haben und machen.
In der Klasse, von der hier berichtet wird, sind ausserdem noch zwanzig weitere Kinder; neun davon besuchen den DaZ-Unterricht auf unterschiedlichem Niveau – einige sprachen kein Wort Deutsch beim Kindergarteneintritt (obwohl die Eltern seit Jahren in der Schweiz leben; doch dies ist ein anderes Thema). Ein weiteres Kind dieser Klasse hat ebenfalls einen ISR-Status; es hat eine körperliche und geistige Beeinträchtigung, ist jedoch nicht verhaltensauffällig.
In dieser Klasse herrscht kaum Ruhe, es ist ein ständiges Kommen und Gehen: Da ist die Heilpädagogin, welche stundenweise erscheint und ihre Schützlinge integrativ fördert, es ist die DaZ-Lehrperson, welche ebenfalls stundenweise erscheint und integrativ fördert, da kommt die Logopädin und holt zwei Kinder ab, die Ergotherapeutin steht ebenfalls auf der Matte, und dann erscheint der Schulpsychologe zwecks Beobachtung des Sozialverhaltens der Kinder, die abgeklärt werden.
6 – Jakob und die Puffermädchen
Wenn von Kindern mit besonderen Bedürfnissen und integrativer Förderung gesprochen wird, dann wird – unter anderem – von Abdul und Blerim gesprochen. Für Kinder ohne besondere Bedürfnisse ist auch nichts Besonderes vorgesehen!
Doch jede Lehrperson ist froh und dankbar, dass es sie auch noch gibt: die ruhigen Kinder, die freundlichen und kreativen Kinder, die «normalen» Kinder. Dass sie ebenfalls da sind, ist eine angenehme Tatsache, der man sich zum Glück nicht sonderlich zu widmen braucht.
Es sind Kinder wie zum Beispiel Jakob, der sich stundenlang stillvergnügt mit Bilderbüchern beschäftigen kann oder zeichnet und malt – solche Kinder sind ein Geschenk für jede Kindergärtnerin. Neben Jakob sind da auch noch die Puffermädchen (in seltenen Fällen sind es Pufferbuben). Die Puffermädchen sind lieb und anständig, sie freuen sich auf den Kindergarten, sind offen, kreativ und wissbegierig und spielen gerne mit anderen Kindern.
Puffermädchen werden zwischen Abdul und Blerim gesetzt, damit diese sich nicht an die Gurgel gehen können. Einem Puffermädchen gefällt diese Aufgabe anfänglich, denn es ist eine wichtige. Zunehmend wird es ihm aber unwohl; die Energie auf beiden Seiten ist stark, und die Aufmerksamkeit der Lehrperson liegt meistens links oder rechts des Puffermädchens, nicht auf dem Mädchen selbst – welches irgendwann nur noch neben seiner besten Freundin sitzen möchte.
7 – Gewinn für alle?
Die Befürworter von Integration und Inklusion betonen gerne, wie gross der wechselseitige Gewinn sei und wie sehr alle Kinder davon profitieren würden. In welcher Hinsicht profitieren das Puffermädchen oder Jakob von der Integration stark verhaltensauffälliger Kinder? Wohlgemerkt, es geht hier nicht um Kinder mit körperlichen Behinderungen oder Entwicklungsverzögerungen, sondern um Kinder mit beträchtlichem Aggressionspotenzial bereits im Kindergarten, um Kinder, die schlagen, spucken, beissen.
Viele der «schwierigen» Kinder sind nicht verhaltensauffällig, sondern schlicht nicht erzogen. Der Kindergarten wird’s dann schon richten, oder die Schule und der Hort, lautet der Tenor. Eine Lehrperson, egal, auf welcher Stufe, soll aber unterrichten dürfen und nicht erziehen müssen. Erziehung ist grundsätzlich Sache der Eltern – um dies festzustellen, braucht es nicht erst ein Standortgespräch. Integration und Inklusion sind schöne Theorien – in der Praxis funktionieren sie oft auf Kosten der «normalen» Kinder, das heisst, der Kinder ohne besondere Bedürfnisse. Haben nicht auch diese Kinder Anspruch auf die Zeit, Energie und Zuwendung der Lehrperson? Der Fokus liegt stets und allezeit auf den schwierigen Fällen.
Bei Integration gewinnen alle? Falsch! Viele verlieren! Es verlieren die Kinder ohne besondere Bedürfnisse, die Stillen verlieren, die Unauffälligen verlieren, und die Puffermädchen verlieren sowieso. Auch die stark verhaltensauffälligen Kinder verlieren, denn immer den Unruhestifter abzugeben, ist auch nicht lustig, und von niemandem zum Spielen aufgefordert zu werden, erst recht nicht. Und auch die Kindergärtnerin verliert, denn ein immer grösser werdender Teil ihrer Arbeit ist es, all die Sondersettings zu koordinieren und all die Absprachen unter allen Lehrpersonen zu fördern und «transparent zu gestalten» – und so hat sie sich das nicht vorgestellt!
Die Wiedereinführung von Kleinklassen für Kinder mit starken Verhaltensauffälligkeiten (oder der frühzeitige Eintritt in eine heilpädagogische Schule) wäre ein folgerichtiges Eingeständnis, dass das Projekt «Integration um jeden Preis» gescheitert ist.
Es geht nicht darum, verhaltensauffällige Kinder in «Kleinklassen wegzusperren» – es geht für einmal darum, auch der Mehrheit der «normalen» Kinder gerecht zu werden. Einer Lehrperson sollte es wieder vergönnt sein, sich diesen Kindern widmen zu dürfen und ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken – das allein ist schon Herausforderung genug!
* Vanessa Pestalozzi ist seit zwanzig Jahren als Kindergärtnerin, Hortleiterin und DaZ-/IF-Lehrperson tätig. Sie schreibt hier unter einem Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Weltwoche-Redaktion bekannt. |
Quelle: Die Weltwoche Nr. 34, 24. August 2023
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.)