«‹Keine Nägel› gibt’s nebenan»

Deutschland 2022. Wohin führt uns die Globalisierung?
(Bild MB)

Sand im Getriebe der globalisierten Wirtschaft

(11. Juli 2022) (MB) Wir fahren zu einer Familienangelegenheit in den Nordwesten Deutschlands. Unterwegs fällt meinem Mann ein, dass er das unerlässliche Outfit für diesen feierlichen Anlass – Jackett + Hemd – zu Hause vergessen hat. Also gehen wir zu einem gut sortierten Herrenausstatter einer bayrischen Stadt. Ein versierter Verkäufer berät uns. Er kennt sich aus in seinem Sortiment und in Stoffen, Schnitten, Grössen, Modellen, Stilen. Eine Freude, von so einem Mann beraten zu werden.

Während Aussuchen und Anprobe kommt man ins Gespräch. Die Lieferschwierigkeiten seien enorm, meint der freundliche Mann. Ich wundere mich, hängt doch der Laden voller Kleider. Ja, sagt er, aber es tun sich immer mehr Lücken auf. Blaue Anzüge in Grösse 52 zum Beispiel gäbe es in absehbarer Zeit nicht mehr, bei Fliegen und Krawatten zeichnen sich Lücken ab.

Nun könnte man sich ja denken, na gut, man kann ja graue oder schwarze Anzüge kaufen und wer braucht heutzutage noch Krawatten und Fliegen? Aber im weiteren Gespräch tun sich weitere Abgründe auf.

Ein Unternehmer, Hersteller von Herrengarderobe, habe in mehreren Werken in der Ukraine fertigen lassen. Von da käme jetzt wegen des Krieges nichts mehr. Der tatkräftige Mann habe in kürzester Zeit zwei Werke in der Türkei aufgebaut. Dort sei nun alles parat zum Weiterproduzieren, trotzdem stünden die Maschinen still. Der Grund: Seine Stoffe bezieht der Fabrikant aus Italien, die könnten aber nicht liefern, weil sie Garne aus Asien bezögen und von da komme jetzt nichts mehr. In anderen Werken lägen die Kleidungsstücke fertig produziert, könnten aber nicht ausgeliefert werden, weil Knöpfe oder Reissverschlüsse fehlten. Ihn erinnere das alles an die Mangelwirtschaft der DDR. Dort kursierte der bezeichnende Witz: «‹Keine Nägel› gibt’s nebenan.»

All dies erzählen wir unserer Freundin aus Sachsen, die wir schliesslich besuchen. Die hört uns aufmerksam zu und erzählt uns dann die Geschichte ihrer Brautausstattung von Mitte der 80er Jahre in der DDR.

Ein Jahr vor der Hochzeit, während ihrer Abschlussprüfungen fürs Studium, begann sie, sich um Kleid, Schuhe, Brautschmuck und Ringe zu bemühen. Brautschmuck fürs Auto und fürs Haar hatte sie als erstes beisammen. Schuhe kaufte sie sich auch schon früh, weil es selten schöne gab. Sie stellte diese als hoffnungsfrohes Schmuckstück ins Regal.

Ein grosses Problem stellten Ringe dar. Es gab nur Blechringe für 33,50 DDR-Mark (so ungefähr); Gold war Mangelware und fast nicht zu haben. Unsere Freundin wollte aber partout nicht mit solchen Blechringen heiraten – dann schon lieber ganz ohne Ringe.

Dagegen erhob ihre Tante geharnischten Einspruch. Zur Verhütung einer Tragödie* vermittelte die Tante ihrer Nichte den Kontakt zu einem Goldschmied. Die Tante war Gärtnerin, der Goldschmied bezog von ihr jede Woche einen Strauss Schnittblumen – auch das eine Rarität in der DDR. Er war somit der Tante etwas schuldig.

So kam es, dass er in einem Hinterzimmer unserer Freundin und ihrem Zukünftigen drei goldene Modelle zur Auswahl stellte. Sie und ihr Bräutigam waren überglücklich und entschieden sich für das schlichteste Modell von den dreien.

Blieb das Brautkleid. Schnitt und Stoff waren schnell ausgesucht, die Schneiderin stand parat. Die zukünftige Braut nahm Kontakt mit der Leiterin der ansässigen Stelle für Stoffe auf. Diese bestätigte ihr, dass der Stoff rechtzeitig geliefert werde. Er kam dann erst zwei Tage vor der Hochzeit. Eine Zitterpartie! Die Schneiderin machte sich sofort ans Werk, alles passte – aber der Reissverschluss fehlte. Ein weisser Reissverschluss musste sofort her. Ein Lehrjunge wurde losgeschickt, um mit dem Fahrrad sämtliche Schneidereien und textilverarbeitenden Betriebe der Umgebung abzuklappern, ob dort ein solcher Reissverschluss noch in Reserve war.

Unsere Freundin, gelernte DDR-Bürgerin, erklärte uns, damals hätten sie bei allem, was unbrauchbar geworden sei, abgetrennt und aufbewahrt, was nur möglich war: Knöpfe, Reissverschlüsse, Bänder, Borten usw. Auf diesem Wissen beruhte die Hoffnung, dass irgendwo ein solcher Reissverschluss aufzutreiben sei. Und Gott sei Dank – der Lehrling wurde fündig, das Kleid konnte fertiggestellt werden und die Braut konnte anständig ausgestattet heiraten.

Dies war nun etwas ausführlich dargestellt die Geschichte der Beschaffung einer Brautausstattung in einer Mangelwirtschaft – aber das war Alltag in der DDR.

In unseren Gesprächen mit verschieden Menschen hier in der Region begegnen wir einer äusserst realistischen Erwartung der kommenden Zustände, wie wir sie aus westdeutschen und schweizerischen Gebieten so nicht kennen.

Noch ein Nachtrag zu unserem bayerischen Herrenausstatter: Mein Mann wollte noch ein T-Shirt kaufen. Der Verkäufer bot verschiedene Modelle an, darunter nato-grüne. Ich protestierte sofort: «Dann siehst du aus, wie Zelensky.» Der Verkäufer wusste sofort, was ich meine und erzählte uns, dass viele Kunden diese Farben nicht mehr sehen wollten, dass die so getönten Kleidungsstücke wie Blei in den Regalen lägen. Er zeigte auf eine grüne Steppjacke in der Ausstellung: Noch vor kurzem sei dieses Modell ganz schnell weggewesen, jetzt wolle es keiner mehr haben.

Ich finde das ein gutes Zeichen.

* Die Tante: «Was sagst du, wenn der Standesbeamte euch auffordert, euch die Ringe anzustecken?» Die Braut: «Dann sage ich: In der DDR gibt es keine Goldringe und mit Blechringen heirate ich nicht.» Die Tante: «Um Gottes willen, das kannst du auf keinen Fall machen!»

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