Ist die Schule noch zu retten?
von Ursula Felber,* Schweiz
(8. November 2024) Endlich kommt in den Medien etwas Dynamik in das Thema Schule. Nur wird auch heute der Ball hin und her geworfen und die offensichtlichen Missstände in der Schule gerne auch der Migration in die Schuhe geschoben.
Als pensionierte Lehrerin, die Jahrzehnte an der Primarschule und Sonderschule unterrichtete, blicke ich auf viele Jahre Schulreform zurück. Was hat diese gebracht?
«Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe zum Lehrer»: Erasmus von Rotterdam war immer mein Leitfaden. Als Lehrperson braucht man vor allem Einfühlungsvermögen, Geduld, die Weitsicht und Gewissheit, dass die Kinder alles lernen können. Der geführte Unterricht im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern führt zum Erfolg. Auch die Hartnäckigkeit und Zuversicht, dass die Kinder Schwierigkeiten überwinden können, indem sie gefordert werden und üben, üben und nochmals üben ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn. Das Wichtigste ist, dass die Schülerinnen und Schüler eine sichere, zuverlässige Bindung zur Lehrperson aufbauen können.
Das Lehrerpatent habe ich Ende der Achtzigerjahre auf dem zweiten Bildungsweg erworben. Das alles habe ich in meiner Ausbildung gelernt. Damals war Methodenfreiheit, wenig administrativer Aufwand, die Kontrolle durch die Schulpflege und die Eltern selbstverständlich. Die Eigenverantwortung war gross.
Später löste eine Reform die andere ab, immer mehr Vorschriften, Sitzungen, administrativer Aufwand, Kontrollen usw. folgten. Damit einhergehend büsste auch das Ansehen der Lehrperson ein, die Autorität wurde untergraben. Die Ausbildung war nur noch an der Pädagogischen Hochschule möglich, die Seminare abgeschafft. Hinzukam die Einführung der Fremdsprachen Englisch und Französisch an der Primarschulstufe. Mit der Einführung des Lehrplan 21 war dann der Höhepunkt erreicht. Selbstentdeckendes Lernen, jedes Kind soll individuell lernen, die Lehrperson wird zum Coach degradiert. Viele Pädagoginnen und Pädagogen haben sich kritisch geäussert. Sie wollten nicht gehört werden.
Anfangs der neunziger Jahre hatten wir Besuch von Pädagogen aus England. Sie wollten lernen, wie die Kinder an Schweizer Schulen im Ganzklassenunterricht unterrichtet werden, wie man eine Klasse führt, sodass alle Kinder möglichst viel lernen und eine Gemeinschaft bilden. Die Engländer hatten diesen schon abgeschafft und gemerkt, dass der schulische Erfolg rapide abnahm. Bald darauf wurden in der Schweiz die Schulen wie bereits beschrieben reformiert. Es war nun verpönt als Lehrerin vorne zu stehen und an der Wandtafel ein Thema gemeinsam zu erörtern. Die Bänke in Reih und Glied zu stellen war altmodisch. Es war früher nicht alles besser. Natürlich hat sich unsere Welt verändert und einige Änderungen in der Schule waren wirklich nötig. Aber mit der Vereinzelung der Schülerinnen und Schüler, mit dem selbstorganisierten Lernen, mit der Lehrperson als Coach hat man dem Unterricht die Seele geraubt.
Heute die Ursache der Schwierigkeiten in der Schule nur bei dem grossen Ausländeranteil zu suchen ist ungerecht. Anfangs der Nullerjahre hatte ich in meiner Klasse nur fremdsprachige Kinder. Die meisten lernten fleissig und die Eltern standen hinter ihnen. Selbstverständlich gab es sehr schwierige Situationen, nicht immer war sofort eine Änderung oder ein Fortschritt zu verzeichnen. Heute treffe ich ab und zu ehemalige Schüler. Eine Tamilin habe ich durch die Matura begleitet, sie will Lehrerin werden. Kürzlich hat mich ein junger Mann aus dem Balkan angesprochen. Er war bei mir in der Einschulungsklasse (1. Klasse in 2 Jahren). Er absolvierte später eine Dachdeckerlehrer und die Bauführerschule. Er ist Offizier der Schweizerarmee. Ein anderer wurde Fussballprofi. Die meisten von den ehemaligen Schülerinnen und Schüler haben ihren Weg gefunden.
Seit der Einführung der Schulleitungen, der Integrativen Schulung, dem Lehrplan 21 und der Digitalisierung bereits im Kindergarten ist die Schule nicht wieder zu erkennen.
Hier liegen die Ursachen der Misere. So wird man weder den einheimischen, noch den ausländischen Kindern gerecht. Die Beziehung der Lehrinnen und Lehrer zu den Kindern, das Menschenbild, das Einfühlungsvermögen, das Engagement sind auch heute noch entscheidend. Die Frage der Migration ist für uns alle eine Herausforderung. Für die Schule, für die Nachbarschaft, für den Verkehr, für die Wohnsituation. Die Diskussion wie wir zusammen leben wollen betrifft alle.
* Ursula Felber, 1949, kaufmännische Ausbildung, Matura zweiter Bildungsweg, 30 Jahre Primarlehrerin an der Unterstufe. Seit der Pensionierung Freiwilligenarbeit im Bereich Deutsch für Fremdsprachige. |