«Integration & Inklusion – eine wachsende Last»

Was spricht eigentlich gegen Kleinklassen & Sonderschulen?

von Michael Felten,* Deutschland

(24. Januar 2025) (CH-S) Zu diesem auch in unseren Schulen und Hochschulen heissdebattierten Thema hielt der Autor zu Beginn des neuen Jahres einen vom «Schweizer Standpunkt» organisierten Vortrag. Die wichtigsten Essenzen daraus fasst er für uns zusammen.

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Michael Felten an der Veranstaltung des «Schweizer Standpunkt».
(Bild sv)

Die Regelschule kämpft mit zahlreichen Problemen: zu wenig Lehrkräfte, schlechte Ausstattung, unausgegorene Unterrichtsreformen, unbändige oder unkonzentrierte Schüler. Dabei wird die integrative Beschulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf vielfach als zusätzliche und besondere Belastung erlebt.

Deshalb wird der Ruf immer lauter, Inklusion in der Schule zu überdenken – «Zürcher wollen Kleinklassen», so eine Befragung in 2024. Immerhin führte dieser Kanton «Schulinseln» ein, also die zeitweilig getrennte Beschulung. In Basel schuf das Stadtparlament die Möglichkeit, auch grundsätzlich separativen Unterricht zu ermöglichen.

In Deutschland kehren Bundesländer ebenso nach und nach zu (zumindest phasenweise) getrenntem Lernen zurück: Schleswig-Holstein spricht von «temporären Lerngruppen» und «Campuslösungen», Baden-Württemberg von «Förderklassen».

Offenbar wurde von den Befürwortern inklusiver Beschulung Ausmass und Schwere des sonderpädagogischen Förderbedarfs massiv unterschätzt. Gleichwohl wirkt der neue Pragmatismus ein wenig verschämt – hatte es doch lange geheissen, der Gemeinsame Unterricht sei ein quasi unveräusserliches Menschenrecht. Und es klingt ja auch nahezu paradiesisch: dass es das Beste wäre, wenn in der Schule alle Kinder, gleich welcher Herkunft und Leistungsfähigkeit, miteinander lernen würden. Ohnehin verlangt die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK, 2006) dies doch – oder nicht?

UN-Konvention: missverstanden

Ziel der BRK war es, Menschen mit Behinderungen eine möglichst umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern. Für den schulischen Bereich hiess es deshalb, «[…] stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden […].» Vielmehr sollen «[…] ihnen in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmassnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.» (Art. 24.2)

Dieser Passus war wichtig, weil in manchen Ländern – anders als im deutschsprachigen Raum – noch vor wenigen Jahrzehnten Tausende von Kindern mit Behinderungen gar keine Schule besuchten. Aber er bedeutet keineswegs, dass Sonder- und Förderschulen oder -klassen nun abzuschaffen wären – im Gegenteil. Denn – so die BRK an anderer Stelle:

«Besondere Massnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.» (Art. 5.4)

Und was wären Sonder- und Förderschulen oder -klassen anderes als Einrichtungen, die mit spezifischer Expertise Kindern mit besonderem Förderbedarf bei ihrer Entwicklung behilflich sind? Auch an den Fall, dass Eltern sich unsicher sind, ob ihr Kind besser inklusiv oder separat beschult wird, hat die BRK gedacht: «Bei allen Massnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.» (Art. 7.2)

Elterliche Verantwortung schliesst also auch die Möglichkeit ein, zwischen inklusiver und separativer Beschulung wählen zu können.

Forschung: skeptisch

Entgegen einem Positionspapier der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) zur Inklusion1 ist die Forschungslage zum Nutzen gemeinsamen Lernens uneindeutig bis skeptisch. So sind die von der HfH angeführten Belege wenig belastbar, und kritische Studien werden dort einfach ausgeblendet. Tatsächlich profitiert nur ein Teil der Förderschüler (die ‹leichteren› Fälle) von inklusiver Beschulung, und ab Pubertät kommt es auch in Inklusionsklassen zu (innerer) Separierung.2 Es gibt ja durchaus gute Erfahrungen mit Gemeinsamem Lernen – nämlich dort, wo in Schulversuchen ständig eine sonderpädagogische Fachkraft mitarbeitete, und wo die Förderbedarfe der Kinder genau zu ihrer Expertise passten. Aber die Hoffnung, im Schulalltag das Lernen hochgradig individualisieren zu können, hat sich weitgehend zerschlagen, das Ausmass seelischer Belastung und die Bedeutung von Schonräumen wurde weithin unterschätzt. Unterschiedlichste Förderbedarfe erfordern einfach unterschiedlichstes pädagogisches Handeln. International lässt sich jedenfalls nirgendwo ein völliger Verzicht auf Separation feststellen.

Warum machen die das?

Wenn aber «Gemeinsames Lernen» vielfach in «wohlwollende Vernachlässigung» mündet (Ahrbeck),3 darf gefragt werden, warum Integration und Inklusion so unbedacht und unterausgestattet aufgegleist wurden.

Hoffte man primär auf gewaltige Einsparungen? Oder sollte die allgemeine Bildungsmisere human bemäntelt werden? Wollte man doch noch einmal einer grossen Utopie frönen?

Simultaneität scheint jedenfalls nicht der optimale Ausweg für Heterogenität zu sein. «Eine Schule für alle», das klingt zwar gerecht – aber geht es nicht um «Für jedes Kind die beste Schule»? In inklusiven Settings mögen behinderte Kinder zwar dabei sein – mittendrin sind sie aber nicht wirklich. Zu fragen wäre: Wann genau und für wen macht Gemeinsames Lernen Sinn?

Eine Perspektive: dual-inklusiv denken

Weil inklusive Beschulung Vorteile wie Nachteile mit sich bringt, plädierte Otto Speck in «Dilemma Inklusion» (2019) für eine pragmatische Lösung, das «zwei-Säulen-Modell» («dual track approach»):

  • Regel- und Sonderschulen/-klassen bestehen lassen, aber zwischen ihnen hohe Durchlässigkeit gewährleisten;
  • die Expertise der Regelschullehrer bzgl. Unterricht und Förderung stark verbessern – um zu vermeiden, dass Kinder unnötig zur Sonderschule verwiesen werden;
  • auch an Regelschulen den ständigen Austausch mit Sonderpädagogen ermöglichen
  • Inklusion nur an bestausgestatteten Schwerpunktschulen praktizieren;
  • Förderklassen an Regelschulen («Campuslösung», «temporäres Time-Out») einrichten.
* Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet. Er ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner und hat den Human Award 2014 der Uni Köln erhalten. www.eltern-lehrer-fragen.

Quelle: © Felten 2025 («Die Inklusionsfalle», 2017)

1 https://www.hfh.ch/sites/default/files/documents/2022-06_schulische-inklusion_dossier_final.pdf

2 http://walcher1.magix.net/index_htm_files/HfH%20behauptet.pdf

3 https://inklusion-als-problem.de/literatur/

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