«Der eigentliche Skandal ist PISA selbst»

Interview mit dem Bonner Professor Rainer Kaenders

von Margit Warken-Dieke*

(15. März 2024) Professor Rainer Kaenders,** der oberste Mathematiklehrer-Ausbilder der Universität Bonn, nimmt kritisch Stellung. Für ihn ist PISA und die Fixierung auf die Verwendbarkeit eines Menschen als Humankapital das eigentliche Problem.

Margrit Warken-Dieke. (Bild zvg

Eigentlich redet Rainer Kaenders begeistert von Mathematik und ihrem Unterricht. Aber derzeit ist der Mathematik-Professor  konsterniert. Und zwar darüber, dass um die PISA-Studie rituell ein Skandal inszeniert wird und sie dabei selbst das grösste Desaster in der deutschen Bildungslandschaft ist. Das hat er Margit Warken-Dieke im Interview erklärt.

Margit Warken-Dieke: Sie sind der oberste Mathelehrer-Ausbilder in Bonn. Nehmen Sie als solcher die schlechten Ergebnisse der PISA-Studie persönlich?

Rainer Kaenders: Persönlich nehme ich das insoweit, als dass ich mich wieder darüber ärgere, dass PISA selbst der eigentliche Skandal ist und nicht ein vermeintlich desaströses Abschneiden unserer Schüler.

Rainer Kaenders. (Bild Benjamin Westhoff)
Wie meinen Sie das?

PISA deckt nicht Probleme unseres deutschen Bildungssystems auf. PISA ist nicht die Lösung, PISA ist das Problem! Und zwar seit 23 Jahren, seitdem die Wirtschaftsorganisation OECD – eben mit PISA und unter Aufsicht der deutschen Bildungsbehörden – in das deutsche Bildungswesen eingegriffen hat; mit gravierenden Folgen. Lehrer an weiterführenden Ausbildungen und Studiengängen wissen, dass seit den Veränderungen in der Folge von PISA der deutsche Matheunterricht grosse Probleme aufweist und die mathematischen Fertigkeiten der Schüler in späteren Ausbildungen und auch der Studierenden in den ersten Semestern stark nachgelassen haben. Wenn für mich PISA überhaupt etwas nachweist, dann immer nur, dass die PISA-Intervention selbst ein Fehler war.

Erklären Sie das bitte.

Dazu blicken wir zurück. 2000 haben die OECD und die Presse den sogenannten PISA-Schock veranstaltet, seit 2003 wird alle drei Jahre vorgeblich der mathematische Bildungsstand der Schüler abgefragt. Damals kamen die zu lösenden Beispielaufgaben – die wirklichen vorgelegten Aufgaben sind ja geheim, und damit ist PISA keine wissenschaftliche Studie – fast wörtlich aus niederländischen Schulbüchern. Den Vorsitz der Aufgabenkommission für Mathematik hatte der Niederländer Jan de Lange. In deutschen Schulbüchern gab es solche Aufgaben über zum Beispiel «Würfelgebäude» oder «leerlaufende Vasen» nicht. Stattdessen boten Haupt- und Realschulbücher solides Rechnen und praktische Anwendungen von Mathematik an, im gymnasialen Matheunterricht lernte man etwas Konzeptuelles über Ungleichungen, Primzahlen oder Parabeln. Das sind Beispiele von Themen, die bei PISA bis heute keine Rolle spielen. Mich hat es also nicht gewundert, dass die niederländischen Jugendlichen damals besser abschnitten als die deutschen.

Welche konkreten Auswirkungen hatte das auf die Lehrpläne?

Der Mathematikunterricht in Deutschland hatte seit jeher in der Welt einen ausgezeichneten Ruf. Seit 2003 jedoch besteht das Ziel darin, in PISA gut abzuschneiden. Also wurden unsere Lehrpläne «entrümpelt», Primzahlen, Parabeln und Co. waren auf einmal nicht mehr so wichtig. Deutsche Schüler lernten, die neuen, angeblich «alltagsbezogenen» Aufgabentypen mit den erwarteten Antworten zu versehen – und die immer wieder eingeübten, fast rituellen Aufgabenmuster sorgten dafür, dass sie im Wettbewerb ordnungsgemäss lieferten. Schon 2006 standen sie einen Platz vor den Niederländern. Jetzt ist der PISA-Test mal wieder etwas schlechter ausgefallen, und schon wird wieder skandalisiert: «Schlimmer als bei der ersten PISA-Studie».

Aber so schlimm ist es gar nicht?

Es ist das Vorgehen von PISA, die Ergebnisse als Skandal darzustellen, wie man an den Grafiken des Reports sehen kann. Darauf muss die Politik reagieren und PISA wird ernst genommen. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind längst nicht so gross, wie es von den PISA-Machern suggeriert wird. Eigentlich kommt bei allen Ländern so ziemlich dasselbe raus. Lange war Finnland unser grosses Vorbild, das liegt jetzt auf Platz 20. Nun blicken viele völlig enthusiasmiert nach Estland. Dorthin wird also bald die nächste grosse Recherchereise unserer Bildungspolitiker gehen.

Welche Auswirkungen hat die PISA-Fixierung auf unsere Schüler?

Für die intellektuelle Entwicklung der Jugendlichen ist es problematisch, dass die durch PISA implementierten, letztlich anti-aufklärerischen Bildungsvorstellungen unserem einst vorbildlichen Bildungssystem Schaden zugefügt haben.

Was heisst das konkret?

PISA hat die Output- und Kompetenzorientierung in den so genannten Bildungsstandards, Lehrplänen und zentralen Prüfungen etabliert. Das klingt harmloser, als es ist. Die im PISA-Kosmos sogenannte Kompetenzorientierung – und Kompetenz ist ja eigentlich positiv konnotiert – soll laut OECD dafür sorgen, dass die Schüler als Humankapital in der Wirtschaft verwendbar gemacht werden. Man hat zunächst verschiedene Kompetenzen formuliert, wie zum Beispiel Ausdauer oder Communication-Skills. Später kamen alle möglichen Kompetenzen, auch mathematische, hinzu.  Daraus soll ein Katalog entstehen, in den die künftigen Arbeitnehmer eingeordnet werden. Die Firmen können sich dann aussuchen, welche Art von Kompetenz-Kombinationen sie brauchen. Das geht völlig an der Bildungsidee vorbei, die wir über 200 Jahre in Deutschland aufgebaut haben. Sie hat vor allem mit dem Humboldt'schen Ideal eines sozialen, freien und gebildeten Individuums zu tun, das sich – auch bei der Arbeit – als lebenstüchtig erweist. Das ist etwas völlig anderes als die Verwendbarkeit eines Menschen als Humankapital.

Was bedeutet das für die Motivation der Schüler, etwas zu lernen?

Laut dem bekannten Psychologen Franz Weinert (1930–2001, Anm. d. Red.), der auf mehrfachen Vorschlag der OECD den Leistungsbegriff generell durch den bei PISA verwendeten Kompetenzbegriff ersetzt hat, wird die intrinsische Motivation der Schüler zum Lernen überschätzt. Sie müssen stattdessen von aussen kommen und dann internalisiert werden. Dafür gibt es besondere Psychotechniken: Man muss den Kindern das Gefühl – und das Gefühl reicht – geben, dass sie in Gemeinschaften eingebunden sind, dass sie etwas können und dass sie das Ganze freiwillig tun. Und dann sind sie motiviert – egal wofür. So arbeiten auch die sozialen Netzwerke und Sekten. Das widerspricht jedoch dem, was schon Platon zur Bildung sagte. Bei ihm geht es immer um die Welt. Sie ist das, was einen motiviert. Ich mache Geometrie, weil es sie gibt. Ich interessiere mich für Differentialgleichungen, weil ich das an sich als faszinierend und nützlich erfahre. Und nicht, weil ich daran irgendwelche Kompetenzen erlerne, die dann später ein Arbeitgeber gut nutzen könnte. Schule sollte ermöglichen, dass sich Motivation an der Welt entzünden kann, und nicht auf Psychotechniken setzen.

Und wie funktioniert die von aussen aufgestülpte Motivation?

Offenbar nicht gut. Das stellen die Deutsche Mathematiker-Vereinigung und die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik seit Jahren fest. Wir sehen das auch in den Mathematik-Vorlesungen bei Erstsemestern. Wir können bei den meisten Studierenden nicht mehr davon ausgehen, dass die jungen Leute zum Beispiel die elementarsten Dinge aus der Geometrie, der Algebra oder der Bruchrechnung beherrschen.

Ist PISA für die mathematische Bildung unserer Kinder noch schlimmer als der Lehrermangel?

Da vergleichen wir jetzt Pest und Cholera. Aber es hängt auch zusammen. Viele PISA-Apologeten wollen die Digitalisierung an den Schulen vorantreiben und so das Problem des Lehrermangels lösen. Digitale Hilfsmittel können sehr sinnvoll eingesetzt werden, allerdings können sie die Lehrer nicht ersetzen. Es ist ja nicht so, dass wir in unserer Gesellschaft zu wenige Menschen haben, die Lehrer werden könnten.

Warum werden sie es dann nicht?

Es mag nicht der Hauptgrund sein – aber ich habe durchaus Studierende, die sehr begabt sind und gerne Lehrer würden, aber von dem abgeschreckt werden, was aus der Schule geworden ist. Also wählen sie eine andere Laufbahn. Das Zentralabitur ist nur eins von vielen Beispielen, das zeigt, dass Lehrern nicht mal zugetraut wird, ihre eigenen Schüler zu beurteilen; die Zentralisierung und die Bürokratie nehmen zu.

Wie können sich Lehrer wehren?

Indem sie guten Unterricht machen und dadurch das System subversiv umgehen. Und da gibt es zum Glück viele, die das tun.

Erwarten Sie von unserer Bildungspolitik, dass sie irgendwann das Ruder rumreisst?

Nein. Mittlerweile hat keine etablierte Partei mehr eine tragfähige Vision für eine eigenständige Bildungspolitik. Alle reden von Digitalisierung, Heterogenität, demokratischen Werten. Aber Konservative pochen nicht mehr auf den klassischen Bildungskanon; Liberale fordern nicht mehr von der Schule die Vorbereitung auf die Leistungsgesellschaft; Grüne wollen keine Entfaltung der Persönlichkeit in einer pluralistischen Gesellschaft mehr; Die Linke führt nicht mehr die Selbstermächtigung der streitbaren Lernenden für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit im Programm. Alle wollen nur noch PISA, das zu jeder dieser Forderungen im Widerspruch steht. Bei PISA gut abzuschneiden, wird als gute Bildungspolitik verstanden. Das ist ein Desaster.

*  Margit Warken-Dieke, Jahrgang 1977, hat in Bonn Germanistik und Politikwissenschaften studiert, anschliessend beim «General-Anzeiger» volontiert und ist seit 2007 Redakteurin.
** Rainer Kaenders, Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Quelle: Bonner Generalanzeiger, 19. Dezember 2023
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

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