Zum gesellschaftlichen Leben in Russland

Elena Danilova und Michael Danilov
(Bild zvg)

Bericht über eine erfreuliche Privatinitiative für obdachlose Menschen

von Mikhail Danilov und Elena Danilova,* Krasnodar, Russland

(21. Mai 2021) Der vorliegende Bericht aus Russland resultiert aus inländischen Beobachtungen und Reflexionen über das Problem der Eigeninitiative in Russland. Wir erheben keinen Anspruch auf vollständige Erfassung dieses Problems, versuchen jedoch die Tatsachen und Zusammenhänge objektiv darzustellen. Gerne laden wir zur Diskussion ein und freuen uns über einen Erfahrungsaustausch im Zusammenhang mit der Eigeninitiative in Russland oder auch in anderen Ländern.

Eigeninitiative in Russland. Schilderung der Situation

Russland ist flächenmässig das grösste Land der Welt, mit über 17 Millionen Quadratkilometern fast doppelt so gross wie das zweitgrösste Land Kanada und etwa 415 mal so gross wie die Schweiz. Mit seinen etwa 146,8 Millionen Einwohnern leben in Russland etwa 17 mal so viele Menschen wie in der Schweiz. Historische Faktoren prägen Russland als ein Land mit starker zentralistischer Ausrichtung. Die Entscheidungen werden «von oben» gefällt: die Regionalverwaltungen sind den Kremlverordnungen untergeordnet. Russlands Staatsaufbau ist somit ähnlich zentralistisch wie zum Beispiel derjenige Frankreichs. Sämtliche Steuern einzelner Städte und Regionen fliessen zuerst nach Moskau, und erst dann kommt ein Teil zurück in die regionalen Budgets. Dementsprechend werden in Russland Probleme traditionell vom Staat bzw. noch zu wenig in regionaler Kompetenz von der örtlichen Verwaltung gelöst. Die föderale Gewaltenteilung könnte noch verbessert werden.

Wie auch in anderen Staaten hemmt die ausgeprägte vertikale Macht soziales Miteinander als problemlösende Kraft. Dies hat in Russland historisch verwurzelte Gründe, auf die wir im Rahmen dieses Artikels nicht detailliert eingehen können. Jedoch alleine die jüngste Geschichte liefert uns Gründe: Soziale Erschütterungen der 90er Jahre unter Jelzin verbunden mit der damals verbreiteten Kriminalität und Korruption zerstörten auch zwischenmenschliches Vertrauen. Zahlreiche soziale und wirtschaftliche Verbesserungen seit der Regierungsübernahme durch Putin gaben den Menschen wieder Hoffnung; geblieben ist jedoch ein Glaube an den Staat, der zwar nicht alle Probleme lösen kann, aber generell vermutlich wisse, wie man das Lenkrad handhabt.

Ein Stück Zuhause bietet das grösste Obdachlosenasyl
in St. Petersburg. (alle Bilder www.homeless.ru)

Eine Entwicklung zu mehr Mitwirkung, Mitentscheidung und Mitverantwortung ist ein langwieriger, jedoch sehr wichtiger Wandel. Wenn jeder Mensch einsieht, dass nicht nur seine Familie von ihm abhängt, sondern auch seine Umgebung, sein näheres Umfeld, dann trägt dies wesentlich zum Menschenwohl im grossen Russland – unserer Heimat – bei.

Wie russische Bürger ihre Mitwirkungsmöglichkeiten einschätzen

Um dieses Anliegen zu verdeutlichen, beziehen wir uns auf einige statistische Daten, die zeigen, wie russische Bürger ihre Mitwirkungsmöglichkeiten einschätzen.

Der Jahresband «Öffentliche Meinung 2020»1 enthält eine Reihe von Fragen und Antworten, die die Eigeneinschätzung von Verantwortung und Einflussmöglichkeiten der Russen und Russinnen widerspiegeln. Aus dieser Statistik lässt sich ableiten, dass das Verantwortungsgefühl der Bürger für Angelegenheiten ihres direkten Wohnumfeldes, Bezirks, ihrer Stadt und ihres Landes nicht sehr hoch ist. Vermutlich ist ihr Empfinden ähnlich wie in anderen westeuropäischen Grosstädten. So antwortet auf die Frage «Inwieweit können Sie Ihrer Meinung nach das beeinflussen, was im Haus, auf dem Hof, wo Sie leben, passiert?» nur jeder Fünfte mit «in wesentlichem Masse», während die häufigste Antwort (34%) «In geringem Masse» lautet. Auf die Frage «Inwiefern fühlen Sie Verantwortung dafür, was in Ihrer Stadt/Ihrem Bezirk passiert?» folgt als häufigste Antwort (48%) «Fühle überhaupt keine Verantwortung» und die zweithäufigste Antwort (34%) ist «In geringem Masse». Die Frage «Inwiefern können Sie Ihrer Meinung nach beeinflussen, was in Ihrer Stadt/Ihrem Bezirk passiert?» wird am häufigsten (38%) mit «Überhaupt nicht» beantwortet. Die zweithäufigste Antwort (37%) ist «In geringem Masse».

Fast ein Zuhause. Ein Rehabilitationsprogramm für
Menschen, die unter Alkohol- und Drogensucht leiden.

Bezogen auf die Situation im Land sind die Diskrepanzen noch dramatischer. So wird die Frage «Inwiefern fühlen Sie Verantwortung dafür, was in Ihrem Land passiert?» von 60% der Befragten mit «Fühle überhaupt keine Verantwortung» beantwortet. Die zweithäufigste Antwort (24%) ist «In geringem Masse». Die Frage «Inwiefern können Sie Ihrer Meinung nach beeinflussen, was in Ihrem Land passiert?» wird am häufigsten (55%) mit «überhaupt nicht» beantwortet. Die zweithäufigste Antwort (26%) ist «In geringem Masse».

Tabelle 1. Ausgewählte Fragen und die häufigsten Antworten. Quelle: Jahresband «Öffentliche Meinung 2020 Lewada-Zentr», S. 39–40.

Den statistischen Daten ist zu entnehmen, dass die Hälfte bis zwei Drittel der russischen Bürger sich kaum oder gar nicht dafür verantwortlich fühlen, was in ihrem Wohnhaus, Hof, Bezirk, in Stadt und Land passiert. Oder sie meinen oft, dass sie darauf keinen oder nur einen geringen Einfluss nehmen können. Solche Erkenntnis erschreckt. Sie zeugt von Ratlosigkeit und mangelndem Sinn für Eigeninitiative. Den weiteren statistischen Daten ist auch zu entnehmen, dass dem Präsidenten und den sogenannten Silowiki (dem Verteidigungsapparat) hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Gleichwohl sind wir der Meinung, dass es Russland und uns Mitbürgern gut täte, wenn wir Bürger mehr mitentscheiden können und eigene Initiativen einbringen.

Private gemeinnützige Initiativen

Ein gesundes und dynamisches Gesellschaftsleben setzt die Erkenntnis voraus, dass man tatsächlich in der Lage ist, etwas in seinem Umfeld verbessern zu können. Die Politik und die Medien könnten Einfluss nehmen, indem sie aufzeigen, dass jeder Bürger mehr leisten kann, als nur passiv abwarten, welchen Beschluss der Staat fasst. Erfolgreiche Initiativen können zeigen, dass man sehr wohl Einfluss auf Probleme des Alltags nehmen kann. Wichtig ist dabei, dass solche Initiativen ohne politische Beeinflussung oder Manipulation von innen oder von aussen entstehen. Denn ansonsten, wenn diese Initiativen für politische Propaganda benutzt würden, verschwindet der Reiz der Eigeninitiative der Bürger, und der Staat oder andere holen sich die «Lorbeerkränze». Die Freude und der Stolz erwachsen hingegen aus dem gemeinsamen Schaffen für das Gemeinwohl. Politische Einflussnahme kann störend wirken. Hier ein Beispiel einer gemeinnützigen Initiative, die schliesslich auch von den Behörden unterstützt wurde.

Gemeinnützige Organisation «Notschletschka»

Die gemeinnützige Organisation Notschletschka (dt. Nachtasyl) ist eine Eigeninitiative, die obdachlosen Menschen hilft, ihren Weg zurück ins normale Leben zu finden. Die Organisation versorgt Obdachlose mit Kleidung, Essen, Wärme in Wärmepunkten und Nachtzelten sowie mit Medikamenten, wirbt in den sozialen Medien um freiwillige Helfer, baut Stereotype ab. «Wir möchten, dass unsere Gesellschaft menschlicher wird, damit die Menschen verstehen, dass jeder auf der Strasse sein kann, und dass es selbstverständlich ist, einer Person in Schwierigkeiten zu helfen. Durch Geschichten darüber, wer die Obdachlosen sind, wie sie auf der Strasse gelandet sind, warum sie Hilfe brauchen und wie wir diese bereitstellen, bekämpfen wir vorgefasste Meinungen rund um das Thema Obdachlosigkeit und können auch finanzielle Mittel für unsere Arbeit generieren», so werden die Ziele dieser Einrichtung auf der Webseite erklärt.2

Die Notschletschka wurde in der schwierigsten Zeitperiode der jüngsten russischen Geschichte, im Jahre 1990 von Walerij Sokolow und seinen Gleichgesinnten gegründet. Damals wurden in Sankt-Petersburg aufgrund der Nahrungsknappheit Lebensmittelkarten eingeführt, die jeweils in Übereinstimmung mit dem Wohnsitz verteilt wurden. Obdachlose hatten dementsprechend kein Recht auf Lebensmittelkarten. Die Organisation veranlasste schliesslich die Stadtverwaltung die Entscheidung zu treffen, auch Menschen ohne festen Wohnsitz Karten für Grundnahrungsmittel auszustellen.

Obdachlosenhilfe jetzt gesetzlich verankert

Auch heute arbeitet die Notschletschka in diesem Sinne. So wurde im November 2020 ein Kommentartext zum Gesetzesentwurf des Arbeitsministeriums «Über den sozialen Schutz behinderter Menschen» vorbereitet und an das Ministerium geschickt. Dieses Gesetz ermöglicht Menschen mit Behinderungen, Rollstühle, Augenprothesen, Hörgeräte, orthopädische Schuhe und andere wichtige Dinge zu erhalten, ohne an einen festen Wohnort gebunden zu sein und sich dauerhaft registrieren zu lassen. Der aktualisierte Gesetzesentwurf wurde bereits von den zuständigen Abteilungen und der Regierung genehmigt, in der Staatsduma und im Föderationsrat geprüft und schliesslich am 8. Dezember vom Präsidenten unterzeichnet. So steht es im November- und Dezemberbericht 2020 dieses Projektes.3

Ein wichtiges Anliegen der Einrichtung ist psychologische und juristische Beratungshilfe. Auch Beratung zur Arbeitsfindung kann hier jede Person bekommen, unabhängig davon, ob der Betroffene Dokumente oder die russische Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Jeden Tag werden rund 40 Menschen beraten.

Die gemeinnützige Initiative Notschletschka zeigt uns, dass selbst in kritischen und lebensbedrohlichen Situationen Menschen in Russland einander helfen und sogar die Gesetze beeinflussen können. Wenn es so ist, dann können auch für einfachere regionale Anliegen Lösungen gefunden werden.

Solche Beispiele des Einbezugs der Menschen in gemeinnützige Privatinitiativen stärken die zwischenmenschlichen Verbindungen in der Gesellschaft und geben Mitbürgern mehr Zuversicht.

1 Jahresband: «Öffentliche Meinung – 2020». Moskau. Lewada-Zentr 2021. 152 Seiten

2 Webseite von Notschletschka: https://homeless.ru/

3 November- und Dezemberbericht 2020 von Notschletschka: https://homeless.ru/upload/iblock/a59/Otchet_noyabr_dekabr.pdf

* Dr. Elena Danilova ist promovierte Germanistin. Lehrstuhl für deutsche Philologie an der Staatlichen Kuban-Universität. Mikhail Danilov ist Jurist und tätig im industriellen Import- und Exportbereich.

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