Das Geschenk zum 75. Jahrestag der Nato – Unterstützung durch Frankreichs Oppositionsparteien

von Pierre Lévy,* Paris

(26. April 2024) (CH–S) Alle grösseren Parteien Frankreichs scheinen sich nun einig zu sein, dass der Kriegskurs der Nato und des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons zielführend seien. Die Oppositionsparteien haben ihre Fahnen nach dem Mainstream ausgerichtet. Es gibt nun im französischen Parlament kaum noch ernsthafte Opposition zur Kriegspolitik. Die Europawahlen stehen an, und in Frankreich gibt es keine grössere Partei mehr, die sich deutlich für den Frieden und gegen den blühenden Bellizismus ausspricht.

* * *

Pierre Lévy. (Bild https://
ruptures-presse.fr)

Bisher hatte sich die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Partei «La France insoumise», die sich als «radikale Linke» bezeichnet, eher durch ihre grundsätzliche Ablehnung der Nordatlantischen Allianz NATO hervorgetan. Nun scheint sich das Blatt zu wenden.

Wenn Russland Polen angreift, «haben wir die Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung, […] wir werden ihnen helfen müssen, sich zu verteidigen». In dem von den Mainstream-Medien geschaffenen russophoben Klima erscheint diese Erklärung vom 3. April traurig banal. Sie spiegelt getreulich das Hauptargument der EU wider: Militärische Hilfe für die Ukraine sei notwendig, um Moskau davon abzuhalten, seine Nachbarn bei lebendigem Leib zu verschlingen. Bis zur Oder und zur Donau. Und warum nicht bis zum Rhein und dann, wer weiss, bis zur Spitze der Bretagne?

«La France insoumise»

Was auf der politischen Bühne Frankreichs eigentlich hätte auffallen müssen, ist die Autorin des Satzes. Es ist nämlich Manon Aubry, amtierende Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der Partei La France insoumise (LFI) für die Europawahlen, die sich damit einem bereits gut besetzten Lager anschliesst: dem der Befürworter der Nato, die als kollektives Verteidigungsinstrument des Westens gesehen wird, der von den Ambitionen des Kremls bedroht werde. Bisher hatte sich die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Bewegung, die sich als «radikale Linke» bezeichnet, eher durch ihre grundsätzliche Ablehnung des Atlantischen Bündnisses hervorgetan.

So bekräftigte das Programm der LFI ihre Absicht, «den sofortigen Rückzug Frankreichs aus dem integrierten Kommando der Nato und dann schrittweise aus der Organisation selbst vorzuschlagen». Dieser Wille scheint heute vergessen zu sein. «Wenn morgen ein europäisches Land angegriffen wird, müssen wir natürlich Solidarität zeigen», so die Europaabgeordnete. Eine bewaffnete Solidarität, natürlich.

Unter diesen Umständen fällt es schwer, in der Erklärung von Frau Aubry keine politische und ideologische Kehrtwende zu sehen. Die Nato-Führer, die sich darauf vorbereiten, vom 9. bis 11. Juli in Washington das 75-jährige Bestehen der Organisation zu feiern, dürften eine solche Unterstützung auf jeden Fall zu schätzen wissen. Ein schönes Geburtstagsgeschenk, zweifellos.

«Rassemblement National»

Umso mehr, als es nicht allein kommt. Am anderen Ende des politischen Spektrums hat das Rassemblement National (RN) gerade eine sehr ähnliche Entwicklung bekannt gegeben. Regelmässig wird die Partei von Marine Le Pen von ihren Gegnern beschuldigt, «pro-russisch» zu sein und sogar vom Kreml finanziert zu werden – ähnlich wie die AfD, die in der gleichen Fraktion im Strassburger Parlament sitzt.

Jordan Bardella, der junge Vorsitzende der Partei und Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen im Juni, erklärte einige Tage vor Manon Aubry, dass der Vorschlag des RN, Frankreich aus dem integrierten Kommando der Nato zu entlassen, nicht mehr auf der Tagesordnung stehe, so lange «der Krieg noch immer im Gange ist».

Das Argument ist paradox: Gerade weil ein Krieg im Gange ist, ist es dringend geboten, sich nicht von einem Bündnis, dessen Hauptmerkmal keineswegs Friedensbemühungen sind, in einen solchen hineinziehen zu lassen.

Weshalb?

Man kann sich daher fragen: Was veranlasst die beiden letzten parlamentarischen Parteien Frankreichs, die bisher ein Oppositions-Image gegen die Kriegstreiberei des «Mainstreams» gepflegt hatten, dazu, sich dieser de facto anzuschliessen?

Ist es Opportunismus, das heisst die Befürchtung, dass sie durch eine zu weiche Verurteilung Russlands Stimmen verlieren könnten? Das ist möglich, auch wenn es in Wirklichkeit ein zweifelhaftes Kalkül ist, das die Existenz einer pazifistischen Gesinnung bei vielen Bürgern, die nicht der herrschenden Ideologie unterworfen sind, unterschätzt.

Oder eine grundsätzliche Umkehr? Diese könnte durch die langsame Prägung begünstigt werden, die sich aus dem ständigen Eintauchen ihrer Führer in die europäischen Institutionen – hier das Europaparlament – ergibt. Das Phänomen ist bekannt: Es wäre nicht das erste Mal, dass «radikale» Gegner – oder solche, die sich so bezeichnen – in eine EU-Institution eindringen und ihre Absicht verkünden, sie «von innen heraus umzugestalten», und schliesslich selbst umgestaltet werden.

Die beiden Erklärungen schliessen sich nicht aus, sondern könnten sich sogar ergänzen. Dies ist auf jeden Fall ein Grund zur Freude für den amerikanischen Aussenminister, der sich kürzlich auf einer Tournee durch den alten Kontinent befand. Bei seinem Besuch in Paris am 2. April plädierte Antony Blinken dafür, dass die Europäer ihre Produktion von Waffen, Munition und Ausrüstung für die Ukraine verstärken. Denn, so betonte er, «es handelt sich um Investitionen, die uns dienen».

Dieses Argument scheint nun von Frau Aubry und Herrn Bardella geteilt zu werden.

* Pierre Lévy, geboren 1958 in Paris, ist ein französischer Journalist. Er war von 1996 bis 2001 Redakteur der Tageszeitung L'Humanité und ehemaliger Gewerkschafter der CGT-Metallurgie. Er wurde Chefredakteur der Monatszeitschrift Bastille-République-Nations, die nun den Titel Ruptures trägt.

Quelle: https://freeassange.rtde.live/europa/202072-geschenk-zum-75-jahrestag-nato/, 9. April 2024

Zurück